Forschungsprogramm für die zweite Förderphase (Juni 2025 – Mai 2029)
Die Spannung von Einheit und Vielfalt im Recht ist gerade keine Besonderheit bestimmter Entwicklungsphasen, Regionen oder Rechtsbereiche und auch kein Zeichen defizitärer Rechtsordnungen – stattdessen ist sie ein wesentlicher Faktor, der Rechtsordnungen immer und überall prägt. Das ist die zentrale Arbeitshypothese des Käte Hamburger Kollegs „Einheit und Vielfalt im Recht“. Die ungelöste und unlösbare Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielfalt ist also als Strukturmerkmal des Rechts in seiner gesellschaftlichen Einbettung zu begreifen. Dieser Befund gilt nach unseren Erfahrungen aus der ersten Förderphase in allen Kulturen, wenngleich in unterschiedlich artikulierten Ausprägungen.
Um unsere Hypothese verfolgen zu können, bedienen wir uns eines historisch-vergleichenden Zugriffs, der diachron weit gefasst ist und zugleich regional breit aufgestellt. Denn nur so können wir nach Besonderheiten und Wandlungsprozessen, aber ebenso nach übergreifenden Merkmalen fragen. Ein solcher Zugriff trägt zudem wesentlich dazu bei, verkürzenden Modernisierungsnarrativen entgegenzutreten und die Komplexität und Multidirektionalität historischer wie aktueller Entwicklungen näher zu bestimmen.
In der zweiten Förderphase wird der historisch-vergleichende Zugriff um eine international-vergleichende Perspektive auf Recht und Gerichtspraxis der Gegenwart ergänzt. So können wir aktuelle Phänomene des Zusammenhangs von Einheit und Vielfalt im Recht im Kontext von Globalisierungsprozessen, postkolonialen Entwicklungen und neuen Formen gesellschaftlicher Diversität noch konsequenter einbeziehen und vor dem Hintergrund historischer Ausprägungen auch vergleichend einordnen. Unsere disziplinäre Vielfalt speist sich insbesondere aus der Geschichtswissenschaft, der Rechtsgeschichte, dem geltenden Recht und der Rechtsanthropologie, zudem werden weiterhin auch Fächer wie die Soziologie, Islamwissenschaft, Judaistik oder Politikwissenschaft eine gewichtige Rolle spielen.
Das Kolleg nähert sich seinem Forschungsthema aus drei Forschungsperspektiven:
1. Phänomene pluraler Rechtsordnungen und die hier ansetzenden Muster von Vereinheitlichung oder aber von Organisation des Pluralen,
2. Formen von Vielfalt und Einheit in der Gerichtspraxis,
3. der Zusammenhang von gesellschaftlicher Diversität und dem Auftreten bestimmter Typen von Rechtsvielfalt.
Diese drei Blickwinkel auf den Gegenstand haben es in der ersten Förderphase in produktiver Weise möglich gemacht, analytische Unterscheidungen zwischen Phänomenen von Rechtseinheit und -vielfalt sowie ihrer relationalen Verknüpfungen vorzunehmen und dabei gerade auch durch die Rückbindung an interdisziplinär genutzte Begriffe und Konzepte von Rechtsvielfalt (seltener auch von Rechtseinheit) zu erkennen, inwieweit man überhaupt über ähnliche Erscheinungsformen diskutiert.
Das Anliegen der zweiten Förderphase ist es, aufbauend auf diesen begrifflichen und konzeptionellen Verständigungen eine Typenbildung zu versuchen. Dem Charakter des Kollegs entsprechend wollen wir in der Zusammenarbeit mit den Fellows und ausgehend von ihren Projekten Muster identifizieren, nach denen typologische Unterscheidungen getroffen werden können. Wir sind davon überzeugt, dass es möglich und sinnvoll ist, verschiedene Konstellationen des Zusammenhangs von Vielfalt und Einheit im Recht zu systematisieren und typologisch zu gruppieren, um einerseits die Einzelbeispiele detailgenau zu beschreiben, andererseits aber für die verschiedenen Fälle Grundmuster sowie markante Abweichungen zu bestimmen.
Bündeln wollen wir unsere Diskussionen in Jahresthemen, die zum einen zeitlich und räumlich übergreifend relevant und damit auch für heutige Gesellschaften von hoher Aktualität sind. Zum anderen behandeln sie mit der Frage nach der Bedeutung von Machtmitteln (2025/26), nach innergesellschaftlichen Debatten über Differenzsetzungen (2026/27), nach dem Grad herrschaftlicher Durchdringung des Raumes und damit verbunden nach der Bedeutung institutionalisierter Konfliktlösungsmechanismen (2027/28) wesentliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Recht und Gerichtspraxis. Die in den ersten drei Jahren herausgearbeiteten Ergebnisse greifen wir im vierten Jahr (2028/29) auf, in dem wir uns in systematischer Weise mit Mustern typologischer Unterscheidung des Zusammenhangs von Rechtseinheit und -vielfalt beschäftigen werden. Die Fellows sind sehr herzlich eingeladen, sich an den Arbeitsgruppen zu den Jahresthemen zu beteiligen; die Möglichkeit eines Fellowships im Kolleg hängt aber nicht davon ab, ob das jeweilige Jahresthema passt.
Die Jahresthemen
Vereinheitlichungsanspruch ohne Machtmonopol (2025/26)
Historisch gesehen fand die Rechtsbildung, aber auch die Ausdifferenzierung von Gerichtsbarkeit über lange Phasen ohne ein ausgeprägtes herrschaftliches Machtmonopol statt, das sich erst sukzessive im Zuge von Staatsbildungsprozessen herausbildete, aber gerade durch territoriale Expansionsprozesse immer wieder neue Formen der Begrenzung erfuhr. Damit fehlte es zwar nicht an Machtbeziehungen (etwa im Kontext von Familienstrukturen, als Effekt ungleich verteilter ökonomischer Ressourcen oder mit Blick auf Geschlechterbeziehungen), doch waren diese nicht in der Weise organisiert, dass sie die Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung zentralisiert hätten organisieren können. Gleichwohl sind Vereinheitlichungsbemühungen zu allen Zeiten auszumachen – angestoßen und durchgesetzt wurden sie aber gerade nicht notwendigerweise durch Macht- und Herrschaftsmittel. Zu denken ist hier etwa an Formen der Vereinheitlichung durch Verwissenschaftlichung (z.B. Verbreitung des römischen Rechts in Europa über die universitäre Juristenausbildung), durch zwanglose Formen des legal transplant (z.B. im Fall der freiwilligen Übernahme von Policeyordnungen innerhalb von Städtenetzwerken oder Reichskreisen im Alten Reich) oder schlicht durch die regelmäßige Nachfrage von Gerichten als Angebotsstrukturen der Konfliktlösung (empowering interactions). Eine solche ‚freiwillige‘ Nachfrage war allerdings keineswegs beliebig, vielmehr spielten auch hier unterschiedliche Machtbeziehungen eine Rolle, etwa für die Frage, welche Foren von wem und in welchen Fällen angerufen wurden oder auch werden konnten. Mit diesen Machtbeziehungen ist zudem die Frage aufgeworfen, welche Gruppen von bestimmten Formen der Rechtsvereinheitlichung profitieren und wer von Formen der Rechtsvielfalt. In der Regel lassen sich eben gerade keine generalisierenden Aussagen zu komplexen gesellschaftlichen Konstellationen treffen, weil die Antwort in Abhängigkeit vom Beobachtungsstandpunkt variiert: So können etwa indigene Gruppen, die sich gegen hegemoniale Rechtsvereinheitlichung z.B. auf das internationale Recht berufen, von Formen der Rechtspluralisierung etwa mit Blick auf Möglichkeiten der Landnutzung durchaus profitieren, während Frauen oder Minderheiten in diesen Gruppen dadurch gegebenenfalls zugleich rechtlich schlechter gestellt werden.
Vereinheitlichung als Nachfrageeffekt kann man auch im Fall von Rechtsnormen beobachten, deren Anwendung durch die jeweiligen Gerichte lange Zeit gerade nicht herrschaftlich durchgesetzt werden konnte (zumal, wenn es sich etwa um korporativ organisierte Gerichte handelte). So konnte das mittelalterliche Oberhofwesen vergleichsweise stabile Rechtskreise schaffen, indem sog. Mutterstädte ihr ius fori den Antworten auf Anfragen ihrer Tochterstädte zugrunde legten. Mit politischen Herrschaftsansprüchen oder Territorialgrenzen hatte dies nie etwas zu tun und war doch eine Möglichkeit, regionale Rechtseinheit anzustreben. Durch die Übersetzung gewohnheitsrechtlicher Quellen etwa in slawische Sprachen ließen sich auf diese Weise sogar ethnische Grenzen überwinden. Voraussetzung für ein solches Recht war freilich ein Mindestmaß an Freiwilligkeit. Brach dieser Konsens zusammen, waren überregional einheitliche Rechtsstrukturen kaum denkbar (so etwa beim Niedergang der Feme im späten 15. Jahrhundert). Ohnehin erweisen sich staatszentrierte Rechtsvorstellungen im geschichtlichen Rückblick oft als wenig zeitgerecht. Recht ohne Herrschaft bzw. ohne Machtmonopol darf im historischen Vergleich also nicht untergehen, und auch die Grenzbereiche zwischen Recht und anderen Formen von Normativität sind im Blick zu behalten. Es hat sich als wichtig erwiesen, Fragen von Einheit und Vielfalt gerade nicht nur im Kontext von Staatsbildungsprozessen zu untersuchen, sondern auch übergreifender anzusetzen und viel offener nach situativ anzutreffenden Mustern und Konstellationen von Machbeziehungen und ihren Effekten für Formen der Rechtsvereinheitlichung oder aber der Organisation von Vielfalt im Recht zu fragen. Die in der ersten Phase des Kollegs begonnenen Überlegungen über diese Zusammenhänge werden wir in der zweiten Förderphase ausweiten und vertiefen.
Zudem ist mit Blick auf Herrschaftsstrukturen der Vergangenheit wie auch der Gegenwart zu betonen, dass die Diskussion um Einheitsansprüche bereits bei der Frage ansetzt, über welche Gruppen und Räume Herrschaftsträger ihren jeweiligen Herrschaftsanspruch behauptet und durchgesetzt haben. Der Inhalt von Recht und die jeweilige räumliche Ausdehnung von Herrschaftsbereichen waren über lange Zeiten nicht deckungsgleich. Rechtsbildung durch Gewohnheit und überregionale Gerichte konnte einerseits zu vergleichsweise einheitlichem Recht oberhalb kleinräumiger Hoheitsansprüche führen. Zugleich sind etwa im Familiengüterrecht kleinteilige und von politischen Herrschaftsstrukturen tendenziell gelöste Lösungen bekannt, die von Dorf zu Dorf, ja von Hausnummer zu Hausnummer, unterschiedliches Recht schufen. Andererseits ist die Attraktivität einer geordneten und mit Blick auf die Senkung von Transaktionskosten besser abschätzbaren gerichtlichen Konfliktregelung nicht zu unterschätzen und führte dadurch zu Vereinheitlichungen, wenn sich etwa rechtlich exemte Gruppen wie Armenier in Städten des spätmittelalterlichen Polens freiwillig und ohne obrigkeitlichen Druck den deutschen Gerichten unterstellten, weil ihnen das für ihre Handelstätigkeit nützlich schien.
Im geltenden Recht ergeben sich fruchtbare Parallelen zur historischen Perspektive im inter- und transnationalen Bereich. Das internationale Recht ist nicht nur in diverse Regime fragmentiert, die je eigene Regelungsansprüche und Eigenlogiken verfolgen und zueinander in keinem hierarchischen Verhältnis stehen, sodass es bei überlappenden Anwendungsbereichen im Extremfall zu Regime-Kollisionen kommen kann. Es fehlt ihm auch vielfach an zwangsweisen Durchsetzungsmechanismen, weswegen es darauf angewiesen ist, in die je lokalen bzw. nationalen Kontexte implementiert zu werden. Gerade im Bereich der universellen Menschenrechte, also der nicht regional begrenzten Verträge, bedeutet dies immer wieder auch eine Transposition der gemeinsamen Normen in rechtliche „Dialekte“; es geht also um ein „translating human rights into the vernacular“ (Sally Engle Merry, Human Rights and Gender Violence, Chicago 2006). Dies gilt auch im Europarat, der mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über eine Instanz verfügt, die rechtsverbindliche Urteile fällen, einstweilige Anordnungen treffen und sogar Schadensersatz zusprechen kann. Der EGMR hat mit der margin of appreciation eine Form der Ambiguitätstoleranz für nationale Besonderheiten entwickelt, die es ermöglicht, in besonders umstrittenen Rechtsbereichen oder in Feldern besonders diverser Praxis Vielfalt zu ermöglichen, ohne auf gemeinsame menschenrechtliche Mindeststandards zu verzichten. Obwohl also eine gemeinsame Rechtsnorm angewendet wird, die eigentlich nicht mehrere Bedeutungen zugleich haben kann, wird damit eine Integration unvermeidbarer Vielfalt erreicht.
Ganz ähnlich wie in vormodernen Kontexten kann ein Vereinheitlichungsanspruch im internationalen Recht weniger auf Top-down-Durchsetzung als auf langfristige Prozesse der zunehmenden Normakzeptanz und Angleichung hoffen und lebt dabei zugleich – ähnlich wie imperiale Rechtsordnungen – auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, mit einem gewissen Maß an Pluralismus. Das folgt daraus, dass das „lokale“ (nationale) Recht nicht überall in seinen Tiefenschichten erreicht werden wird.
Ausgehend von diesem Aspekt lässt sich als Arbeitshypothese für die Typenbildung in der zweiten Phase formulieren, dass das Verhältnis von Einheit und Vielfalt jeweils dort eine ähnliche Rolle spielt, wo eine Vereinheitlichung nicht qua Machtmonopol durchsetzbar ist und in den Rechtsordnungen daher spezifische, machtferne Formen von Vereinheitlichung auftreten. Nachgelagert geht es dann um die Frage, wie Vielfalt handhabbar gemacht werden kann, wenn sich alle einschlägigen Regeln ohne Durchsetzungsautorität bilden und durchsetzen müssen.Regel und Ausnahme als Form internalisierter gesellschaftlicher Diversität (2026/27)
Im Rahmen des zweiten Jahresthemas wollen wir uns den Mechanismen der Integration von bestehender gesellschaftlicher Diversität in Rechtsordnungen zuwenden. Bereits in der ersten Förderphase hat sich die Beschäftigung mit Regel und Ausnahme als sehr fruchtbar erwiesen. Die erste Jahrestagung (2022) und drei rechtshistorische Spezialtagungen zu Ausnahme und Vielfalt in der Antike (2022), in der Vormoderne (2023) sowie der Moderne (2024) haben wichtige Einzelaspekte betont. In der zweiten Förderphase wollen wir den Blick von rechtstechnischen und rechtssystematischen Gesichtspunkten ausweiten und stärker die sozialen Grundbedingungen von Rechtsbildung ins Visier nehmen.
Historisch ergab sich zumindest in Europa die Notwendigkeit, eine Gesellschaft als Ganze rechtlich im Hinblick auf Regel und Ausnahme zu strukturieren, erst mit der Aufgabe des Personalitätsprinzips zugunsten der republikanischen Gleichheit im Zuge der Französischen Revolution. War zuvor der Rechtsstatus einer Person durch ihre Standes- bzw. Gruppenzugehörigkeit determiniert, galt nun – jedenfalls dem Anspruch nach – dasselbe Recht für alle. So proklamierte Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Abschaffung aller Standesunterschiede. In diesem Sinne war ein einheitlicher Rechtsstatus der Staatsbürger die Regel, rechtliche Verschiedenheit die Ausnahme. Zuvor hatte es das Modell rechtlicher Gleichstellung nur in engerem Rahmen gegeben – etwa im Kontext städtischer Bürgerschaft oder im Fall religiöser Vorstellungen von Gemeinschaften. Vorgelagert waren hier in der Regel bestimmte und in der Sache häufig voraussetzungsvolle Formen der Mitgliedschaft, die den Kreis der potentiell Gleichgestellten begrenzten (klassisch etwa beim Erwerb des Bürgerrechts in vormodernen Städten). Zugleich handelt es sich hierbei um Phänomene, die auch in anderen Weltregionen relevant sind. So lässt sich etwa in vergleichender Hinsicht fragen, wo in diesem Spektrum beispielsweise das starke Gleichheitspostulat für alle Männer im paschtunischen Recht in Afghanistan zu verorten ist – eingedenk des Umstandes, dass auch die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ursprünglich nur Männer im Blick hatte.
Hier möchten wir insofern diskutieren, welche Formen rechtlicher Gleichheitsvorstellungen sich in unterschiedlichen Konstellationen beobachten lassen und wie deren Auftreten in übergreifende gesellschaftliche Prozesse und Verschiebungen eingebunden war. So ließe sich etwa gemeinsam darüber nachdenken, ob die funktionale Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber anderen gesellschaftlichen Kontexten und der Sphäre der Politik eine Entkopplung des Rechts von ständischen und anderen Differenzkategorien vorantrieb, indem das Recht eine Ressource zur Vereinheitlichung bereitstellte.
Zugleich erfordert in jedem Modell der Anspruch auf rechtliche Gleichheit bei tatsächlicher Ungleichheit tendenziell eine Flexibilisierung der einheitlichen Regel; je größer die erfasste Gruppe, desto größer ihr Heterogenitätspotenzial. Ausnahmen sind eine solche Möglichkeit, der tatsächlichen gesellschaftlichen Diversität gerecht zu werden. Sie können auf unterschiedlichen Ebenen operieren: Durch Ausnahmen lässt sich die personelle Geltung gleichen Rechts beschränken, indem einschlägige Normen für bestimmte soziale Gruppen (Frauen, Kinder, ausländische Staatsangehörige, versklavte Menschen) von vornherein nicht anwendbar sind. Da solche Ausnahmen rechtstechnisch innerhalb einer einzelnen Rechtsordnung festgeschrieben sind, erzeugen sie ihrerseits keine formale Vielfalt, verfestigen aber tatsächliche Verschiedenheit und Ungleichheit. Eine einheitliche Rechtsordnung kann daher soziale Verschiedenheit beseitigen oder verfestigen. Hierzu wollen wir in der zweiten Phase Beispiele kennenlernen und diskutieren.
Im Gegensatz zu solchen europäisch-neuzeitlichen Modellen verzichteten zahlreiche vormoderne Rechtsordnungen von vornherein auf Rechtseinheit und Rechtsgleichheit und benötigen für die rechtliche Organisation der Gesellschaft daher nicht die Codierung nach Regel und Ausnahme. Ähnliches lässt sich in religiös geprägten Rechtsordnungen beobachten. Hier gibt es oftmals neben allgemein verbindlichem Recht exemte Bereiche, die bestimmte religiöse Gruppen nur für ihre eigenen Mitglieder normativ füllen. Moderne Beispiele bieten Staaten, darunter Indien und Israel, die ihr Familienrecht religiös geregelt haben mit der Folge, dass etwa interreligiöse Ehen nur mit Einschränkungen nach säkularem Recht oder sogar nur im Ausland geschlossen werden können. Hier stellt sich die Frage, ob dadurch eine neue Art von Personalitätsprinzip erzeugt wird.
Die Anerkennung gesellschaftlicher Diversität kann jedoch vom Recht auch internalisiert werden. Ein einheitliches Recht erfordert keine Schablonenhaftigkeit, sondern lässt bei der Anwendung auf den Einzelfall – etwa durch am Normzweck orientierte Auslegung – genügend Möglichkeiten, auch Fällen gerecht zu werden, die aus Sicht des Normgebers nicht den „Normalfall“ darstellen.
Die feministische Rechtswissenschaft thematisiert seit langem, dass der Anspruch des Rechts, alle Rechtsunterworfenen gleich zu behandeln, de facto nur für einen Teil der Bevölkerung eingelöst wird: den „Normalbürger“, der männlich, christlich geprägt, heterosexuell, weiß ist. Die Abschaffung von formalen Privilegien hat insofern noch nicht die gesellschaftlichen Privilegierungen beseitigt, die sich aus der Passgenauigkeit des Rechts für die einen und der Einordnung der anderen als „Abweichung“ ergeben. Ein Recht, das ohne Ansehen der Person gelten soll, kann nicht zugleich auf bestimmte Personen zugeschnitten sein, ohne fundamentale Gerechtigkeitsfragen aufzuwerfen. In der Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts gibt es hierfür die Rechtsfigur der angemessenen Vorkehrungen. Sie ermöglicht es, eine einheitliche Regel aufrecht zu erhalten und zugleich diskriminierende Effekte zu vermeiden. Das deutsche Recht hat hierbei starke Impulse aus der menschenrechtlichen und unionsrechtlichen Rechtsentwicklung erhalten.
Wenn gesellschaftliche Gruppen jedoch auf eine Anpassung des Rechts nicht nur an die Bedürfnisse der einen, sondern auch an die der anderen drängen, erscheint dies oft als Beanspruchung einer Sonderregel oder einer Ausnahme von Belastungen, die der Rest der Gesellschaft ohne solche Sonderregelungen tragen muss. Hier wird die Gerechtigkeit von Einheitlichkeit im Konflikt mit der Vielfalt rechtlicher Regelungsregime vor dem Hintergrund tatsächlicher gesellschaftlicher Diversität verhandelt. Die zweite Förderphase wird Freiräume schaffen, damit die Rechtsgeschichte, Geschichtswissenschaft, Rechtsanthropologie und das moderne Recht diese Fragen vertiefen können.Formen von Einheit und Vielfalt im Spannungsfeld von Polyzentrik und Peripherien (2027/28)
Das dritte Jahresthema nimmt das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Recht in räumlicher Hinsicht in den Blick. Historisch lässt sich immer wieder beobachten, wie – als Ergebnis geringer Durchsetzungsgewalt, aber auch als Folge vielfältigen Rechts – die Bindungswirkung rechtlicher Regeln und die Nutzung der Durchsetzungsmechanismen mit zunehmender Entfernung von (Macht-)Zentren schwinden. Dabei entstehen oft auch neue Zentren und von diesen aus neue Peripherien. Im Ergebnis hat man es bezogen auf einen bestimmten Raum mit einer Polyzentrik zu tun. Die Diskussion um reichsferne Räume im Spätmittelalter hat diesen Befund mit der sehr unterschiedlichen Herrschaftsmacht des Königtums intensiv erforscht. Zugleich lässt sich die grundsätzliche Anerkennung von Königs- bzw. Kaiserrecht durch die Verbreitung von Rechtsbüchern im 14./15. Jahrhundert bis in die Randbereiche des Reiches und weit nach Osteuropa hinein beobachten. Die Frage nach Zentrum und Peripherie stellt sich im Recht damit womöglich anders als in der gleichzeitigen Herrschaftsgewalt. So passt Köln als frühes Zentrum gelehrter Kanonistik im 12. Jahrhundert schlecht zur großen Erzählung von der von Oberitalien ausgehenden Rezeption. Und das erste Bartolus-Zitat nördlich der Alpen lässt sich angeblich bei einem norddeutschen Hansetag nachweisen und nicht etwa in einer kaisernahen Reichsstadt. Ob hier durch Inseln gelehrten Rechts Vielfalt entstand oder andererseits die übergreifende Kenntnis und Befolgung des Ius Commune einen einheitlichen europäischen Rechtsraum vorbereitete, lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten, sondern hängt von der jeweiligen Fragerichtung ab. Je nach Sichtweise dürften sich die Befunde für Rechtseinheit und -vielfalt zwischen verschiedenen Zentren und ihren Peripherien deutlich verschieben. In Zeiten schwacher Herrschaft ist in Peripherien zudem mit einem hohen Anteil autonomer Rechtsgewohnheiten zu rechnen, teilweise sogar mit deutlichen sprachlichen Unterschieden zu den jeweiligen Zentren (z.B. frühe volkssprachliche Aufzeichnungen etwa in Friesland). In spätmittelalterlichen Oberhofzügen lassen sich Zentren (Mutterstädte) und Peripherien (Tochterstädte) punktuell gut bestimmen, etwa von Magdeburg bis hinein in das Gebiet der heutigen Ukraine. Doch bildeten sich gerade keine flächigen einheitlichen Rechtsräume, sondern es blieben Stadt-Land-Unterschiede oder die Anbindung an je verschiedene Rechtskreise bestehen. Zudem besitzt das Recht die Möglichkeit, Peripherien juristisch zu beseitigen, etwa durch Ausdehnung des römischen Bürgerrechts auf alle männlichen Reichsbewohner (Constitutio Antoniniana) oder durch die Anerkennung einiger französischer Kolonien als Teil des Mutterlandes.
Auch das Recht der Kolonien wäre grundsätzlich als Ausnahme vom innerstaatlichen Recht des Mutterlandes beschreibbar. Postkoloniale Rechtszustände lassen sich aber mit Blick auf das geltende Recht noch produktiver unter dem Aspekt von Polyzentrik und Peripherien berücksichtigen. Denn die Abnahme oder Aussetzung der Bindungskraft einheitlicher Regeln an und jenseits staatlicher Grenzen, etwa in Form rechtlicher Sonderzonen wie im kolonialen Indien, lässt sich noch heute beobachten. Formal spiegelt sich das koloniale Sonderregime für die Peripherie bis heute in Artikel 56 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er überlässt es den Vertragsstaaten optional, die Konvention auch in ihren Überseegebieten anzuwenden. So hat etwa Großbritannien die Anwendung der EMRK bislang nicht auf die im Indischen Ozean gelegenen Chagos-Inseln ausgeweitet. Und bis heute nutzen Staaten Techniken wie die Exzision von peripheren Territorien (z.B. der australischen Weihnachtsinseln, auf denen der Migration Act nicht anwendbar ist), die Definition von Transitbereichen an den Staatsgrenzen (z.B. in internationalen Flughäfen oder auch „Hotspots“, wo beschleunigte Verfahren gelten) oder die Schaffung extraterritorialer Zonen von Herrschaftsgewalt mit rechtlichen Sonderregimen (z.B. auf der US-Militärbasis in der kubanischen Guantánamo Bay oder im australischen Haftzentrum für Migrant:innen auf dem Inselstaat Nauru), um die Anwendung einheitlicher internationaler Standards zu umgehen und eigene Rechtsregime zu schaffen. Durch das Gespräch mit den Fellows wollen wir solches Anschauungsmaterial kennenlernen und zusammentragen.
Ausprägungen einer Polyzentrik lassen sich im regionalen Menschenrechtsschutz beobachten. Während die universellen Menschenrechtsinstrumente – also die Verträge auf UN-Ebene – bisher nur der rechtlich nicht bindenden Auslegung durch die UN-Vertragsausschüsse in Genf unterworfen sind, haben sich in Amerika, Europa und Afrika jeweils regionale Gerichtshöfe etabliert, die auf der Basis regionaler Menschenrechtskonventionen rechtsverbindliche Urteile fällen können. Da sie dabei vielfach Regeln anwenden, die ähnlich oder gar wortgleich in verschiedenen universellen und regionalen Instrumenten enthalten sind, ergibt sich daraus das Potential der polyzentrischen Diversifizierung der Menschenrechtsgeltung. Mechanismen des informellen Austauschs und der gegenseitigen Zitierung, auch über das gemeinsame „Zentrum“ der UN-Mechanismen, können demgegenüber als Instrumente der Vereinheitlichung dienen. Aus der Perspektive der Rechtsunterworfenen stellt sich hier jeweils die Frage, in welcher Weise Rechtsschutz für Schwache gewährleistet ist. Bei hoher Quellenvielfalt und geringer hoheitlicher Autorität in peripheren Regionen muss Rechtspluralismus keineswegs immer mit romantischen Inseln autonomer Bevölkerungsgruppen verbunden sein. Vielmehr liefert die Anthropologie zahlreiche Beispiele für die unkontrollierte lokale Herrschaft zumeist wohlhabender männlicher Eliten (z.B. in Peru und Äthiopien). Der Vergleich historischer Beispiele mit modernen Befunden führt hier zu heiklen Fragen der jeweiligen Standortgebundenheit von Forschung und zu Wertungen. Darüber wollen wir nach den sehr anregenden Erfahrungen der ersten Phase gemeinsam mit den Fellows ins Gespräch kommen.Muster typologischer Unterscheidungen (2028/29)
Für das vierte Jahr ist bewusst kein weiterer thematischer Fokus als Jahresthema angesetzt. Vielmehr sollen hier die Befunde zusammengeführt und gemeinsam über Möglichkeiten der Typenbildung diskutiert werden. Freilich ist unser räumlich und zeitlich weit gefasster Zugriff am Kolleg so komplex, dass die Suche nach generellen Entwicklungslinien und generalisierten Beobachtungen zu kurz griffe. Der Mehrwert des Kollegs liegt vielmehr gerade im differenzierten und differenzierenden Blick auf die Fragen der rechtlichen Einheit und Vielfalt. Dieser soll und kann im vierten Jahr keinesfalls aufgegeben werden. Daher werden wir ausgehend von den Fällen, die unsere Fellows in die Diskussion einbringen, in einem ersten Schritt für unterschiedliche raumzeitliche Konstellationen diskutieren, welche Dynamiken von Vereinheitlichung und/oder der Herstellung oder Bewahrung von Rechtsvielfalt sich beobachten lassen. In einem zweiten Schritt wollen wir dann fragen, mit welchen Einsichten für eine vergleichende Perspektive wir entlang bestimmter Skalierungen und Referenzebenen nach Mustern von Entwicklungsdynamiken fragen können.