
"Es gibt keine Rechtssicherheit"
In ihrer an der WWU verfassten Dissertation hat sich Dr. Shalene Edwards mit rechtlichen Aspekten des Whistleblowings in der Öffentlichkeit auseinandergesetzt. Von Juni 2016 bis Juni 2018 war sie Rechtsreferendarin am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg, im Herbst beginnt sie ihre Laufbahn als Rechtsanwältin. Kathrin Kottke sprach mit ihr über ihre Forschung.
Was ist ein Whistleblower?
Ein Whistleblower ist eine Person, die in ihrem Arbeitsumfeld oder Wirkungskreis oftmals schwerwiegende und mit Gefahren für Mensch und Gesellschaft, Umwelt oder Frieden verbundene Missstände aufdeckt. Es gibt Whistleblower, zum Beispiel Edward Snowden, die sich direkt an die Presse wenden. Andere Whistleblower veröffentlichen ihre Informationen auf einer Webseite oder leiten sie einer Whistleblowing-Plattform wie WikiLeaks zu. Allerdings gibt es in Deutschland kein Gesetz, das sagt, wann ein Whistleblower die Information rechtmäßig offenbaren darf und wann nicht. Es gibt daher keine Rechtssicherheit.
Welche Gefahren bestehen dadurch für den Whistleblower?
Durch eine unrechtmäßige Offenbarung verstößt er beispielsweise gegen seinen Arbeitsvertrag, gegen Urheber- und Datenschutzrechte und kann sich sogar strafbar machen. Die Offenbarung kann zu Rufschädigungen und Gewinneinbußen führen, sie kann zu Gefahren für Rechtsgüter anderer führen und Personen oder Unternehmen können zu Schaden kommen. Beim Whistleblowing treffen wichtige, aber gegenteilige Interessen aufeinander. Dieser Konflikt kann nicht generell zugunsten des einen oder des anderen Interesses gelöst werden. Dazu kommt eine enorme psychologische und soziale Komponente. Whistleblower stellen sich durch die Offenbarung gegen ihre eigene Institution. Nicht selten werden sie anschließend sozial ausgegrenzt oder verlieren ihren Arbeitsplatz.
Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Dissertation?
In meiner Arbeit habe ich aus rechtswissenschaftlicher Perspektive und auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention erarbeitet, unter welchen Umständen Whistleblowing-Vorgänge und die Veröffentlichung von Informationen rechtmäßig sind. Dazu habe ich Rechtmäßigkeitskriterien herausgearbeitet und analysiert, inwieweit diese Kriterien im deutschen Straf-, Urheber- und im Datenschutzrecht berücksichtigt werden. Das macht für Whistleblower sichtbar, in welchen Fällen sie aufgrund ihres Verhaltens keine rechtlichen Nachteile erfahren.
Um welche Kriterien handelt es sich dabei?
Ich habe drei wesentliche Rechtmäßigkeitskriterien identifiziert: Erstens muss es sich um wahre Informationen handeln, zweitens muss das öffentliche Informationsinteresse vorliegen und drittens muss die Offenbarung erforderlich sein. Konkret bedeutet das, dass Whistleblowing meinen Ergebnissen zufolge immer dann rechtmäßig ist, wenn eine wahre Information zugunsten eines überwiegenden öffentlichen Informationsinteresses offenbart wird. Dazu muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit dem Geheimhaltungsinteresse des betroffenen Unternehmens oder der Institution im konkreten Fall abgewogen werden. Um größere Rechtsklarheit zu erreichen, habe ich die folgenden Fallgruppen zur Eingrenzung erarbeitet, in denen das öffentliche Informationsinteresse in der Regel überwiegt: schwere Menschenrechtsverletzungen und Rechtsverstöße, Gefahren für die öffentliche Sicherheit, Gesundheit und Umwelt sowie schwerwiegende Steuerhinterziehung und Korruption. In diesen Fällen sind wichtige Rechtsgüter betroffen, die entweder durch unsere Verfassung geschützt sind oder Rechtsgüter, die für das Funktionieren unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens unerlässlich sind. Das letzte Kriterium setzt voraus, dass die Offenbarung erforderlich ist. Das bedeutet, dass es keine Alternative gibt, den Missstand zu beseitigen. Eine Veröffentlichung ist daher nur als letzter Ausweg rechtmäßig.
Was müsste diese Person zuvor schon unternommen haben?
Ein Whistleblower müsste zuvor versucht haben, intern nach einer Lösung zu suchen, indem er sich etwa an seinen Vorgesetzten wendet oder eine andere interne Instanz informiert. Viele Unternehmen haben anonyme Briefkästen für Whistleblower geschaffen. In schwerwiegenden Fällen dürfte eine direkte Veröffentlichung zulässig sein, da die Öffentlichkeit dann ein „Recht auf Wissen“ hat.

Durch klare Regeln kann sichtbarer gemacht werden, wann eine Veröffentlichung zulässig ist und wann nicht. Der Erlass der Richtlinie würde zu EU-weiten Mindeststandards führen. Die Ergebnisse meiner Arbeit sind als Handlungsempfehlungen für die Gestaltung künftiger Gesetze auf nationaler oder europäischer Ebene hilfreich. Der nationale Gesetzgeber könnte etwa einen Rechtfertigungsgrund schaffen, der besagt, dass bei Vorliegen der oben genannten Rechtmäßigkeitskriterien ein Whistleblower keine Nachteile erfahren darf – sei es auf strafrechtlicher, arbeitsrechtlicher oder auf datenschutzrechtlicher Ebene.
Dieses Interview stammt aus der Universitätszeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 28. Juli 2018.