"Alte Bücher sind von unschätzbarem Wert"
Sammeln – erschließen – präsentieren: In der Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULB) kann nicht nur Literatur ausgeliehen werden – die Beschäftigten stellen auch umfangreiches Quellenmaterial wie mittelalterliche Handschriften, historische Drucke, Plakate, Sammlungen, Nachlässe, historische Karten, Zeitungen und Fotoalben bereit. Mehr als 288.000 Dokumente aus allen Wissensgebieten befinden sich allein in den 170 Sammlungen und Nachlässen. Um die Nutzung zu vereinfachen, wurde bereits vor zehn Jahren eine Digitalisierungsstrategie entwickelt. Mittlerweile sind mehr als 30.000 Dokumente und Bücher mit über 3,5 Millionen Seiten online verfügbar.
"Zahlreiche Sammlungen sind Unikate und stellen ein schützenswertes Kulturgut dar."
"Durch die Digitalisierung können wir die Inhalte viel schneller für die Forschung zugänglich machen – und zwar weltweit und nicht an einen Standort gebunden", erklärt Reinhard Feldmann, Leiter des Dezernats Historische Bestände der ULB. "Außerdem werden die Originale geschont, da man sie nicht mehr benutzen muss." Das Scannen der Bestände macht lediglich 30 Prozent der Arbeit aus. Die Strukturierung der Daten – also die Erstellung eines Inhaltsverzeichnisses oder die Verschlagwortung der Texte für eine einfache Nutzung – gehört ebenfalls dazu. Die Quellen dokumentieren authentisch das Leben, Denken und Fühlen der Menschen vergangener Jahrhunderte. Gleichzeitig ist das Material für heutige und zukünftige Forschungen von unschätzbarem Wert. "Auch wenn die Bücher, Dokumente oder Fotos vermeintlich alt sind, sind sie wichtig. Denn sie werden zur Grundlage für neue Erkenntnisse von Historikern, Soziologen, Kartografen und Literaturwissenschaftlern", betont Reinhard Feldmann.
Trotz der digitalen Bereitstellung werden die Originale erhalten. Dies geschieht durch die Verbesserung der Lagerbedingungen, das Anfertigen von Schutzverpackungen und die Res-taurierung beschädigter Objekte. "Zahlreiche Sammlungen sind Unikate und stellen nicht nur deshalb ein schützenswertes Kulturgut dar", verdeutlicht Reinhard Feldmann. Die gewonnene Expertise geben die Mitarbeiter der ULB weltweit an Kollegen weiter. Seit zehn Jahren gibt es eine Zusammenarbeit mit National- und Universitätsbibliotheken in Ost-, Südost- und Zentralasien. Die Kooperation beinhaltet gutachterliche Tätigkeiten, Praktikumsbesuche sowie Vorträge und Seminare in Indien, China, Vietnam, auf den Philippinen, in der Mongolei, Korea und Usbekistan.
Von archäologischen Fundberichten über Dokumente aus Russland und dem Kaukasus bis hin zu politischen Karikaturen des 20. Jahrhunderts: Die Sammlungen und Nachlässe der ULB liefern Informationen quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um den Globus. Die "Bibliothek Alexander Haindorf" ist dafür ein Beispiel. Der Arzt und Gelehrte lebte von 1784 bis 1862 und trug rund 2700 Bücher aus der Medizin, den Naturwissenschaften, der Geschichte, Philosophie, Theologie und den Rechtswissenschaften zusammen. Einen Großteil des Bestandes machen illustrierte medizinische Werke aus, die unter anderem die Anatomie des Menschen in aufklappbaren Papiermodellen darstellen. "Die Sammlung von Alexander Haindorf ist die wohl bedeutendste Privatbibliothek eines jüdischen Arztes", erläutert Reinhard Feldmann.
"Das Quellenmaterial der Kapuziner der Rheinisch-Westfälischen Provinz ist von höchster Anschaulichkeit."
Alexander Haindorf studierte Medizin, Philosophie und Geschichte, lehrte als Privatdozent und eröffnete 1815 in Münster eine Praxis als Nervenarzt. Der Mediziner hatte zahlreiche Interessen und machte sich als Herausgeber, Verfasser und Übersetzer von populärwissenschaftlichen Schriften einen Namen. Neben Büchern sammelte er auch Kunstwerke. Im Jahr 2012 übergab Helga Böhme, die Witwe des 2008 verstorbenen Walter Böhme, ein Urururenkel Alexander Haindorfs, die Sammlung an die ULB. Um das Wirken Alexander Haindorfs sichtbar zu machen, wird sie katalogisiert und digitalisiert. Die Inhalte sind für die Medizingeschichte, für die deutsch-jüdische Geschichte, aber auch für die Rechtsgeschichte, Theologie und für Gender Studies interessant.
Eine weitere Sammlung der ULB ist das Archiv der kapuzinischen Südsee- und Chinamission von 1904 bis 1919 und von 1922 bis 1952. Die Korrespondenzen, Unterlagen, Fotos und Dias geben Einblicke in die Missionstätigkeit und in den Alltag, die Sitten sowie Bräuche der dort lebenden Völker. "Das Quellenmaterial der Kapuziner der Rheinisch-Westfälischen Provinz ist von höchster Anschaulichkeit, weil viele Bilder dazugehören", ordnet Reinhard Feldmann die Bedeutung des Bestandes ein. Wie lebten die Menschen in der Südsee und in China? Hatten die katholischen Missionare Einfluss auf die Gesellschaften? Bis heute sind diese Fragen Gegenstand der Wissenschaft. Forscher aus Münster, Japan, Frankreich oder Österreich nutzen diese Sammlung.
Die münsterischen Kapuziner übernahmen ab 1904 ihre Missionstätigkeit in der Südsee. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft wurden sie ausgewiesen. Einige von ihnen gingen zurück in die Heimat, die meisten zogen weiter nach China. Dort entstand ab 1922 eine neue Mission. Mit der Ausrufung der Volksrepublik China im Jahr 1949 erfolgte bis 1952 schrittweise die Ausweisung der Kapuziner als unerwünschte Ausländer. Trotz der widrigen Umstände wurden die Korrespondenzen, zahlreiche Fotoalben, Dias und Bücher gerettet. Etliche der Unterlagen sind online einsehbar.
Autorin: Kathrin Nolte
Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 3, Mai / Juni 2018.