Vergangenheit im Spiegel
1186 Seiten stark ist der Abschlussbericht, den die Kommission zur Erforschung der Geschichte der Universität Münster im 20. Jahrhundert heute (26. Oktober) der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Er ist Teil einer umfassenden Auseinandersetzung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) mit ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Das aus zwei Teilen bestehende Werk, das im Aschendorff-Verlag erschienen ist, ist der fünfte Band in der Schriftenreihe des Universitätsarchivs und trägt den Titel: "Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960."
"Die Tatsache, dass die WWU in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Schuld auf sich geladen hat, ist seit langem bekannt und im kollektiven Bewusstsein der Universität fest verankert. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist daher ein wesentlicher Teil einer notwendigen Erinnerungskultur an unserer Universität", betonte WWU-Rektorin Prof. Dr. Ursula Nelles. Mit dem Abschluss der Kommissionsarbeit habe die Universität Münster eine Lücke geschlossen: "Wir haben uns selbst eingehend im Spiegel betrachtet und sowohl die Opfer- als auch nunmehr die Täterperspektive beleuchtet." 1980 war bereits ein Sammelband zur nationalsozialistischen Vergangenheit der WWU erschienen, daneben gab es zahlreiche Veröffentlichungen zu einzelnen Institutionen. "Der aktuelle Band ist allerdings wesentlich breiter und wissenschaftlich fundierter angelegt", unterstrich die Rektorin.
Was sind die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit? "Die Universität Münster war kein Bollwerk, kein Hort des Widerstands", fasste Kommissionsvorsitzender Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte zusammen. "Sie war aber auch keine Hochburg der NS-Ideologie." Die Ideologisierung von Lehre und Forschung und die Bereitschaft einzelner Personen, sich der Karriere wegen mit dem Regime zu arrangieren, war ähnlich ausgeprägt wie an anderen Hochschulen. "Die Geschichte der Universität in der NS-Zeit war in dieser Hinsicht eine Durchschnittsgeschichte", resümierte der Historiker. Eine Besonderheit war jedoch, dass einige NS-belastete Dozenten in der Nachkriegszeit an die Universität Münster berufen wurden - beispielsweise Otmar von Verschuer, Bruno K. Schultz oder Michael Lesch.
Fünf Jahre lang arbeitete die hochkarätig besetzte Expertenkommission daran, die Geschichte der WWU in der NS-Zeit zu durchleuchten. Der Kommission gehörten neben ihrem Vorsitzenden Hans-Ulrich Thamer Dr. Sabine Happ, Leiterin des Universitätsarchivs Münster, und Dr. Daniel Droste, der Koordinator der Kommission, an. Weiterhin waren Mitarbeiter des Stadtarchivs Münster, des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen und aller Fachbereiche der Universität vertreten.
Hans-Ulrich Thamer hatte sich als anerkannter Fachmann für Nationalsozialismus und europäischen Faschismus bereits im Vorfeld der Kommissionsarbeit mit der Geschichte der WWU befasst. Auch einzelne Dissertationsprojekte aus diesem Forschungsfeld hatte es schon zuvor gegeben. Das Rektorat unter dem Vorsitz von Ursula Nelles gelangte allerdings 2007 zu der Überzeugung, dass die Geschichte der Universität Münster während der NS-Zeit insgesamt zu untersuchen sei und beschloss die Einrichtung einer Expertenkommission zur umfassenden Aufarbeitung der NS-Geschichte der WWU. Den Anlass hatte zuvor die Aufklärung des Falles des Mediziners Prof. Dr. Karl Wilhelm Jötten gelegt, den eine vom Dekanat der Medizinischen Fakultät beauftragte Historikerkommission untersuchte. Der ehemalige Direktor des Instituts für Hygiene war in die Schlagzeilen geraten, weil er während der NS-Zeit Doktorarbeiten betreut hatte, denen rassenhygienische Untersuchungen zugrunde lagen. Die Kommission machte sich ein genaues Bild von der wissenschaftlichen Arbeit Jöttens.
Ziel der Arbeit der NS-Kommission sei es gewesen, sorgfältige und wissenschaftlich haltbare Ergebnisse zu gewinnen, so Hans-Ulrich Thamer. Dies sei den Beteiligten gelungen, betonte der Historiker bei der Vorstellung des Abschlussberichts. "Wir haben ein sehr detailliertes Bild von den Wechselverhältnissen zwischen Wissenschaft und Politik in der NS-Zeit zeichnen können. Damit haben wir ein Stück Universitätsgeschichtsschreibung vorangetrieben." Es sei nicht nur darum gegangen, die Geschichte einer Institution und ihrer Personen in einer bestimmten historischen Epoche nachzuzeichnen, stellte er heraus. "Wissenschaft und Politik haben komplex ineinander gegriffen. Und ohne den gesellschaftlichen Rahmen und die wirtschaftlichen Bedingungen zu betrachten, kann man das Handeln der Personen nicht bewerten." Die Forscher nahmen dabei nicht nur die Situation an der WWU von 1933 bis 1945 genau unter die Lupe, sondern verfolgten auch die Entwicklungen und Strukturen bis in die 1920er Jahre zurück und bezogen die Umbrüche nach 1945 in die Betrachtung ein, wie es in der heutigen Forschung zur NS-Zeit üblich ist.
Der Abschlussbericht der Kommission besteht aus zwei Bänden und gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Teil wird die Universität als Institution beleuchtet. Die Kapitel beschäftigen sich beispielsweise mit der Rolle der Rektoren und Kuratoren, der Aberkennung von Doktorgraden und den studentischen Repräsentationsorganen. Im zweiten Teil widmen sich die Autoren der Rolle der Fakultäten und Institute und nehmen ihre Rolle genau unter die Lupe. Im dritten Teil liegt der Fokus schließlich auf einzelnen Wissenschaftlern, deren Handeln beispielhaft betrachtet und eingeordnet wird.