
„Der Vertrag enthält erstaunlich viele Erfolge für die SPD“
Am 11. April (Mittwoch) haben die Union aus CDU und CSU die Gespräche über eine Regierungsbildung mit der SPD beendet und einen gemeinsamen Koalitionsvertrag vorgestellt. Die Politikwissenschaftler Prof. Dr. Oliver Treib und Prof. Dr. Bernd Schlipphak von der Universität Münster ordnen das Arbeitspapier, das noch von verschiedenen Parteiorganen bestätigt werden muss, im Interview mit André Bednarz ein.
Die Union und die SPD haben sich nach wenigen Wochen der Verhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Es gibt kaum eine Partei, einen Verband oder eine Interessenvertretung, die das Papier noch nicht bewertet hat – positiv, negativ oder zurückhaltend. Wie bewerten Sie den 144 Seiten umfassenden Koalitionsvertrag?
Oliver Treib: Die Parteien haben es geschafft, sich in vergleichsweise kurzer Zeit auf einen Vertrag zu einigen. Bei der letzten ,GroKo‘ hat es im Jahr 2018 mehr als vier Monate gedauert, bis der Koalitionsvertrag stand. Jetzt haben die Verhandlungsteams ihre Arbeit in etwas mehr als sechs Wochen beendet. Das hat sicherlich mit dem Zeitdruck zu tun, der durch die neue außen-, verteidigungs- und handelspolitische Linie der US-Administration unter Präsident Donald Trump entstanden ist. Das merkt man dem Vertrag auch inhaltlich an: Er besteht aus einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von einzelnen Ankündigungen, die oft aus reinen Formelkompromissen bestehen, sodass die Regierung in den nächsten Jahren viele Konflikte wird austragen müssen, die jetzt nur formal übertüncht wurden. Eine übergeordnete Idee ist dagegen nicht zu erkennen.
Eine solche, besonders auffällige Formel im Vertrag ist diejenige, nach der alle Koalitionsvorhaben unter einem sogenannten Finanzierungsvorbehalt stehen. Was hat das zu bedeuten?
Bernd Schlipphak: Das kann man aus zwei Perspektiven beleuchten, die sich gegenseitig nicht ausschließen. Zum einen kann das eine Folge der derzeitigen unsicheren Weltlage sein. Aus dieser Situation könnten sich weitere Notwendigkeiten für staatliche Finanzierungen – etwa als Folge der gerade angesprochenen Handelskonflikte – ergeben, was wiederum die Verfügbarkeit von Geld für andere Themen einschränken würde. Daher können die Koalitionspartner nicht zu viel versprechen wollen, was sie später möglicherweise nicht einhalten können. Zum anderen könnte es ein Signal an die Teile der Unionsbasis sein, die mit der Reform der Schuldenbremse nicht einverstanden sind. Demnach wäre damit die Botschaft verbunden, dass man weiterhin solide Finanzen anstrebt und die Haushaltsdisziplin eingehalten wird.
Die ersten drei von sechs Kapiteln des Koalitionsvertrags beschäftigen sich mit Wirtschaft, „Staatsmodernisierung“ und Migration – Punkte, die auch in der medialen Berichterstattung im Fokus stehen. Ist diese Gewichtung Ihrer Meinung nach geboten?
Oliver Treib: Diese Themen bilden zumindest die geplanten Schwerpunkte der künftigen Regierungsarbeit ab. Auffallend ist, dass es sich dabei vor allem um die Prioritäten der Union handelt. Da der Vertrag, substanziell betrachtet, erstaunlich viele Erfolge für die SPD enthält, könnte die Betonung der Unionsthemen vor allem ein kommunikatives Zugeständnis an ihre Mitglieder sein, damit Friedrich Merz etwas in der Hand hat, um seine Partei davon zu überzeugen, dem Vertrag zuzustimmen. Überraschend ist aus meiner Sicht, dass eines der zentralen Themen, die zurzeit auf der Agenda stehen, erst sehr spät im Koalitionsvertrag auftaucht: Verteidigung. Der Vertrag macht zwar klar, dass die Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren massiv gesteigert werden sollen. Merkwürdig ist allerdings, dass dieses Kapitel erst auf Seite 125 beginnt.
Bernd Schlipphak: Was man aber aufgrund dieser Schwerpunktsetzung und durch die grundlegende Strukturierung des Koalitionsvertrags sicher sagen kann, ist, dass Nachhaltigkeits- und Umweltschutzthemen deutlich weniger wichtig für die Arbeit der Koalition werden, als dies für die Vorgängerkoalition der Fall war.
Es klingt so, als hätten Sie, Herr Treib, soeben die SPD zum Verhandlungsgewinner erklärt …

Bernd Schlipphak: Wichtig scheint mir die Besetzung der Ministerien zu sein. Auch nach der Reform der Schuldenbremse ist das Finanzministerium am Ende entscheidend für die einzelnen Haushalte der Ministerien. Dass die SPD dennoch das Finanzministerium besetzt, ist für mich überraschend. Die Umsetzung der vorher genannten Schwerpunktthemen der Union durch die von ihr geführten Ministerien sind damit zukünftig abhängig von einem SPD-geleiteten Finanzministerium. Die Vorgängerkoalition und ihr vorzeitiges Ende haben verdeutlicht, welche möglichen Konflikte eine solche Situation mit sich bringen kann.
Neben den angesprochenen großen und umspannenden Themen dürften für die Universität Münster vor allem Passagen zu Bildung und Forschung interessant sein. Wie bewerten Sie diese Aspekte im Koalitionsvertrag?
Oliver Treib: Das ist einer der Bereiche, bei denen der Koalitionsvertrag so vage ist, dass es schwer ist, etwas Konkretes herauszulesen. Aber immerhin bekennt sich die neue Koalition dazu, dass bis 2030 jährlich mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden sollen. Allerdings fasst sie dabei die Ausgaben des Staates und der Wirtschaft zusammen. Wie hoch die staatliche Forschungsförderung ausfallen wird, ist damit also nur teilweise beantwortet. Aber der Vertrag enthält auch keine großangelegten Kürzungspläne, wie sie etwa unsere niederländischen Kolleginnen und Kollegen gerade verkraften müssen. Eine gute Nachricht für uns in Münster ist sicherlich, dass die Uni im Wettbewerb um künftige Drittmittel gut aufgestellt ist. Die im Vertrag genannten Schwerpunktbereiche der zukünftigen Forschungsförderung decken sich stark mit dem Forschungsprofil der Uni Münster.
Bernd Schlipphak: Aus dem Ministerium für Bildung und Forschung wird jetzt einerseits das Forschungs- und Raumfahrtministerium, das der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ein ,Super-Hightech-Ministerium‘ nennt, während andererseits die Bildung dem Familienministerium zugeordnet wird. Klar, Bildung und Forschung sind im Kern Landesthemen, das heißt, sie werden grundsätzlich auf der Ebene der Bundesländer diskutiert und umgesetzt. Aber für eine Hochschule wie die Universität Münster, die sowohl in der Lehramtsausbildung als auch in der Forschung zu erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Inhalten besonders ausgewiesen ist, werden – so meine Vermutung – dennoch Folgen der Umstrukturierung spürbar werden.