
„Jeder kleine Einzelbeitrag hat einen ethischen Einfluss“
Für die Energiewende sind alle verantwortlich – von der persönlichen über die politische bis hin zur internationalen Ebene. Philosoph Prof. Dr. Michael Quante ist Mitherausgeber einer Publikation mit dem Titel „Energieverantwortung“, die kürzlich erschienen ist. Im Interview mit Anke Poppen spricht er über kleine und große Lösungsansätze.
Was bedeutet Energieverantwortung?
Handeln heißt, Verantwortung zu übernehmen für die Folgen, die daraus entstehen. Wir produzieren und konsumieren Energie und sind dabei für unser Handeln verantwortlich – als Einzelne und als Gesellschaft. Gerechtigkeitsfragen sind Verteilungsfragen: Wenn ich als Konsument entscheide, Produkte zu meiden, etwa Atomstrom, erzeuge ich eine Ungleichheit, denn ich behandle nicht alle Anbieter gleich. Diesen Ungleichheiten muss man mit Gerechtigkeitskriterien begegnen: Was sind gerechtfertigte und was ungerechtfertigte Maßnahmen? Wen betreffen sie?
Bei der Energiewende denken die meisten sicher zuerst an Wirtschaft und Politik. Welchen Beitrag leistet die Philosophie?
Grundlagen von Prognosen wie Klimamodelle sind wissenschaftstheoretisch zu prüfen. Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit der Frage, wie ich Kenntnis über künftige Folgen meines Handelns erlangen kann – denken Sie an die Debatten um ein Atommüll-Endlager. Bei ethisch-normativen Fragen kommt die praktische Philosophie ins Spiel: Wie ist Verantwortung zwischen Staat und Individuum verteilt? Was sind Normen internationaler Gerechtigkeit angesichts unterschiedlicher Weltbilder? Die Philosophie klärt zudem, ob es sich um empirische oder ethische Fragen handelt.

Wenn die Politik fragt, welche energetische Maßnahme die Wähler akzeptieren würden, ist das weder eine philosophische, noch eine normative Frage. Welche Maßnahme akzeptabel wäre, ist dagegen eine ethische Frage. Diese Ebenen geraten oft durcheinander, das kann man in politischen Diskussionen und Talkshows beobachten. Wir müssen stets klären, welche Disziplin jeweils zuständig ist. Die Energiefrage tangiert zum Beispiel Ökonomie, Politik und Recht. Die Philosophie hilft, die Zuständigkeiten zu klären.
Warum ist denn die Klärung der Ebenen überhaupt wichtig? Die Menschen wollen doch einfach nur Antworten. Oder anders gefragt: Ist es überhaupt die Aufgabe von Wissenschaft, einen aktiven Beitrag zur Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse zu leisten?
Wir sagen den Menschen nicht, was richtig oder falsch ist, oder wie sie leben sollen, sondern schaffen Bedingungen für rationale Debatten. Ohne diese kann Demokratie nicht funktionieren. Mit methodisch kontrolliertem Wissen klären wir Phänomene, die man im Alltag eher subjektiv wahrnimmt. Wissenschaft ist in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aus Steuergeld finanziert. Daraus ergibt sich die Pflicht, Fragen, die die Gesellschaft uns stellt, zu beantworten. Darin und in einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Ausbildung liegen die Beiträge von Wissenschaft und Universität. Sie soll die Menschen dazu befähigen, die Institutionen, in denen sie arbeiten, nachhaltiger zu gestalten.
Welche Ebenen der Verantwortung gibt es für die Energiewende?
Menschen handeln, nicht die Gesellschaft als solche. Sie handeln in Rollen und sprechen dabei nicht nur für sich, sondern etwa für eine Partei, ein Unternehmen oder eine Gewerkschaft. Institutionell geprägtes Handeln geht mit einer anderen, rollenspezifischen Verantwortung einher als individuelles. Die Klimakrise ist ein globaler Prozess, angesichts dessen sich Menschen, vermittelt über ihre politischen Repräsentanten, darüber verständigen müssen, wie sie zusammenarbeiten wollen. Wer hat in welcher Kooperation welche Verantwortung? Dies ist eine grundlegende Frage.
Die ist bestimmt umso schwieriger zu beantworten, je mehr Staaten beteiligt sind, oder?
Wir müssen zwischen Fragen der internationalen und der nationalen Gerechtigkeit unterscheiden. Viele soziale Systeme wie beispielsweise die Pflege, Gesundheit und Rente sind nationalstaatlich organisiert. Was wäre eine energiegerechte Innenpolitik? Jede Maßnahme muss sozial verträglich sein. International gesehen, dulden autonome Staaten nur begrenzt Einmischung. Deswegen ist es eine komplexe Aufgabe, die berechtigten Interessen der jeweils anderen in den Blick zu nehmen und gemeinsame Ziele zu entwickeln. Man kann komplexe Probleme nicht lösen, indem man vorrangig nationale oder gruppenspezifische Interessen durchsetzen will.
Ein Aspekt ist dabei sicher auch der steigende Energiebedarf der Schwellenländer. Welche Verantwortung messen Sie hier den Industrieländern bei?
Wir haben eine historische Verantwortung. Viele wirtschaftlich schwache Länder haben die Zeche für die Entwicklung von heute wirtschaftlich starken Staaten bezahlt. Aus ethischer Sicht sollen Menschen in Schwellenländern auch ein gewisses Wohlstandsniveau erreichen; deshalb müssen wir ihnen eine entsprechende Entwicklung zugestehen. Gerechtigkeit heißt nicht, dass alles gleichbehandelt wird, sondern dass unterschiedliche Dinge angemessen ungleich behandelt werden. Unterschiedliche Entwicklungsstände erfordern eine gleiche Berücksichtigung der Entwicklungschancen, das kann aber zu ungleichen Maßnahmen führen. Der gleiche Geldbetrag kann in ärmeren Staaten viel mehr bewirken als bei uns. Wenn Ressourcen knapp sind, ist es ethisch immer geboten, sie effizient einzusetzen.
In welchem Verhältnis steht die individuelle Verantwortung dazu?
Bei einem globalen Problem ist grundsätzlich jeder Einzelne in der Verantwortung. Wir haben in unserer Demokratie viele Freiheitsrechte. Der privilegierte Teil hat noch mehr Möglichkeiten und damit mehr Verantwortung. Als Konsument bin ich für mein Kaufverhalten verantwortlich. Daraus ergeben sich unterschiedliche Gerechtigkeitsprobleme: Wenn viele Menschen ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können, haben wir ein Verteilungsproblem, das politisch gelöst werden muss. Wenn ich zur Miete wohne, habe ich wenig Einfluss auf die Art der Beheizung. Aber Mieter können sich dennoch für nachhaltige Sanierungsmaßnahmen einsetzen.
Dennoch stellen sich viele die Frage, ob ihr kleiner Einzelbeitrag überhaupt eine Wirkung hat.
Wir dürfen die persönliche und politische Verantwortung nicht hin- und herschieben. Auch der Gedanke, dass es auf den einzelnen kleinen Beitrag nicht ankommt, ist nicht förderlich. Im Sinne eines ethischen Beitrags kommt es sehr wohl auf den Einzelnen an. Dass eine Einzelmaßnahme nicht ausreicht, um ein Problem zu lösen, heißt nicht, dass sie nicht notwendig ist. Anders gesagt: Wer denkt, andere müssen das Energieproblem lösen, ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Es geht weniger darum, ob mein Handeln erfolgreich ist, sondern darum, überhaupt Verantwortung zu übernehmen.
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Welche Verantwortung haben wir gegenüber kommenden Generationen?
Unsere neuen Technologien beeinflussen auch Menschen, die erst in tausend Jahren geboren werden: Atom- oder Plastikmüll sind Beispiele hierfür. Unsere bisherige Ethik der Daseinsvorsorge ist eine für die Enkel – also für Menschen, die jetzt bereits leben. Darin liegt eine wichtige Aufgabe für die Philosophie: Welche ethischen Normen gelten in Bezug auf zukünftige Generationen, die jetzt noch nicht existieren? Aber selbstverständlich bleibt richtig: Ohne ,Enkeltauglichkeit‘ wird es auch nicht funktionieren.
Autorin: Anke Poppen
KURZ NACHGEFRAGT:
Wie kann eine gerechte und nachhaltige Energiepolitik aussehen?

Prof. Doris Fuchs, PhD ist Direktorin des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit Potsdam und Professorin für nachhaltige Entwicklung an der Universität Münster.
Wer trägt die Last der Nachhaltigkeit?

Dr. Tobias Gumbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 2. April 2025.