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Münster (upm/ap).
Blick in eine historische Papierfabrik<address>© stock.adobe.com - aero</address>
Vor dem Buchdruck kam das Papier. Seine Erfindung war geräuschloser, aber nicht weniger folgenreich.
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„Der Buchdruck ist nicht der Maßstab aller Medienrevolutionen“

Historikerin Carla Meyer-Schlenkrich über die Erfindung des Papiers

Die meisten Menschen denken bei Medienumbrüchen der Vormoderne zuerst an den Buchdruck. Eine Voraussetzung für seinen Erfolg war der Rohstoff Papier. Die Geschichte seiner Erfindung und Durchsetzung ist sehr viel länger und verlief im mittelalterlichen Europa deutlich geräuschloser als der Paukenschlag des Buchdrucks – wie die Historikerin und Mittelalterspezialistin Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich, die vor Kurzem das Buch „Wann beginnt die Papierzeit?“ veröffentlicht hat, im Interview mit Anke Poppen erläutert.

Fangen wir vorne an: Wann entstand Papier und was sind die ältesten erhaltenen Zeugnisse?

Die Geschichte des Papiers begann vor etwa 2.000 Jahren in China. Nach Europa kam es im 11. Jahrhundert über den Nahen Osten und Nordafrika. In Sizilien haben sich frühere Papiere erhalten. Noch öfter finden wir nur indirekte Hinweise, wenn in späteren Kopien auf Pergament vermerkt wurde, dass das verlorene Original auf Papier gestanden habe.

Was unterscheidet Papier von Pergament?

Für Schreibende waren die Unterschiede wohl eher gering. Anders als beim Wechsel von Handschrift zu Buchdruck benötigte man keine neuen Kompetenzen oder Werkzeuge. Vermutlich war der Umgang mit Papier bequemer: Pergament musste erst zugeschnitten und tintenfest gemacht werden, Papierblätter dagegen kamen fertig aus der Mühle. Für das Spätmittelalter haben wir außerdem Hinweise, dass Papier günstiger war als die aus Tierhaut gefertigten Pergamente.

Portraitfoto Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich<address>© Uni MS - Kalle Kröger</address>
Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich
© Uni MS - Kalle Kröger

Praktisch und günstig – führte das Papier zu einer Verbreiterung der Schreib- und Lesefähigkeit?

Schreib- und Lesekompetenzen dieser Jahrhunderte sind nicht statistisch messbar. Zugleich fehlt uns ein quantitativer Überblick, wieviel Papier und Pergament tatsächlich genutzt wurde, wir kennen nur den vermutlich sehr kleinen Teil der Schriftstücke, die aufgehoben wurden. An den Archivbeständen im deutschen Sprachraum wird immerhin deutlich, dass ab der Mitte des 14. Jahrhunderts erheblich mehr überliefert ist, darunter auffällig viele Papiere. Dies ist ein Indiz für steigenden Schriftgebrauch und zugleich für die wachsende Bedeutung des Papiers für diesen Anstieg.

Der Buchdruck galt schon den Zeitgenossen als bahnbrechend, Voraussetzung für seine Durchsetzung war auch das Papier. Haben die Menschen dessen Aufkommen als ebenso revolutionär empfunden?

Wir neigen heute dazu, den Buchdruck als Maßstab aller Medienrevolutionen zu sehen – und das hat auch damit zu tun, dass schon die Zeitgenossen des Erfinders Johannes Gutenberg nach 1450 die Vor- und Nachteile der Erfindung intensiv diskutierten. Verglichen damit, verlief die Einführung des Papiers nicht nur sehr viel langsamer, sondern auch erstaunlich geräuschlos. Papier wurde über lange Zeit im lateineuropäischen Raum meist gar nicht thematisiert – und wenn, dann eher negativ, anders als zum Beispiel in der islamischen Kultur.

Wie kam es dazu?

In der islamischen Sphäre, in der das Papier schon im 8. Jahrhundert ankam, erfuhr es von Beginn an eine andere Aufmerksamkeit: Insgesamt habe ich für das 9. bis 15. Jahrhundert mehr als 50 Autoren aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Nordafrika und den islamischen Teilen der Iberischen Halbinsel recherchiert, die sich über Papier, seine Herstellung und Eigenschaften, seine Geschichte und seinen Gebrauchswert äußerten. Ihr gemeinsamer Tenor ist, dass sie beim Papier gegenüber den älteren Beschreibstoffen Pergament und Papyrus vor allem die Vorzüge hervorhoben. Kalligraphen zum Beispiel rühmten seine weiche Oberfläche, Kanzleischreiber schilderten es als weniger anfällig für Fälschungen als Pergament.

Warum kam es im europäischen Raum zu einer anderen Bewertung?

Dies lag nicht zwingend an den materiellen Eigenschaften. Oft ist zu lesen, Pergament sei dauerhafter als Papier; die modernen Restaurierungswissenschaften dagegen bescheinigen auch dem mittelalterlichen Papier aus Lumpen große Langlebigkeit. Meines Erachtens liegt der eigentliche Grund in sozialen Konventionen. So bezeugen unzählige Quellen aus verschiedenen Jahrhunderten, dass rechtsrelevante Schriften auf Pergament geschrieben sein mussten, um als authentisch zu gelten. Alles, was wichtig war, stand nach Ansicht der mittelalterlichen Menschen also auf Pergament. Wir würden unser Testament ja auch nicht als E-Mail abschicken.

Das erinnert an heutige Diskussionen über die Wertigkeit von Digitalisaten im Vergleich zu gedruckten Büchern. Sind Medienumbrüche seit Jahrhunderten Anlass für die immer gleichen Kontroversen?

In der Tat gibt es frappierende Parallelen. In den hitzigen Debatten um den Buchdruck im späten 15. Jahrhundert etwa wurde beklagt, dass ‚der gemeine Mann‘ lesen lerne und daher in religiösen Fragen Mitsprache einfordere. Im ,Bauernkrieg‘ vor 500 Jahren eskalierten diese Forderungen sogar in Gewalt. Heute diskutieren wir über die Wirkungen, die die sozialen Medien auf unsere politische Kommunikation und unsere Wahlentscheidungen nehmen.

Die künstliche Intelligenz ist die aktuelle Medienrevolution. Wie blicken Sie als Expertin für Geschichte der Schriftkultur darauf?

KI nimmt uns auf Knopfdruck Schreiben und Denken ab, das sind viel weitreichendere Veränderungen als der Wechsel vom Papier zum Bildschirm. Was das für unsere Schriftkultur und unser soziales und politisches Miteinander bedeutet, ist nicht absehbar. Sicher werden wir mit immer mehr Texten umgehen müssen, es wird immer herausfordernder sein, korrekte von falschen, wichtige von unwichtigen Infos zu unterscheiden. Meines Erachtens bedarf es einer Renaissance geisteswissenschaftlicher Kompetenzen: Wir brauchen dringend Textexpert*innen, die KI-Tools kritisch analysieren und ihre Produkte bewerten können.

Dieser Artikel ist Teil einer Themenseite zum "Welttag des Buches" und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 2. April 2025.

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