|
Münster (upm/nor).
In einem Saal sitzen Dutzende Menschen auf Stühlen und blicken in Richtung Podium. Dort stehen mehrere Personen an Stehtischen und einem Pult. Sie sprechen zum Publikum und veranschaulichen ihre Inhalte mit Bildern, die mittels Projektor auf eine Leinwand geworfen werden.© Uni MS - Johannes Wulf
Fotos

Ein Projekt „von nationalem Interesse“

„Asking the Pope for Help“: Forscher präsentieren in Rom erste Erkenntnisse über jüdische Bittbriefe

Es regnet am 16. Oktober 1943 in Rom, als um 4 Uhr in der Früh etwa hundert SS-Soldaten das jüdische Stadtviertel unweit des Zentrums umstellen. Exakt anderthalb Stunden später beginnt die Razzia der Besatzer. Auch in weiteren Vierteln der in 26 Zonen eingeteilten italienischen Hauptstadt machen deutsche Soldaten Jagd auf Juden; zahlreiche Römer werden an diesem trüben und kalten Samstag stumme Zeugen der Deportation, die für die Opfer zunächst in der Militärakademie am Tiber-Ufer endet. Von den 1.022 Juden, die zwei Tage später vom Bahnhof Tiburtina in 18 Viehwaggons ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt werden, überleben nur 16 – 15 Männer und eine Frau.

Bei der einzig überlebenden Frau handelte es sich um die damals 22-jährige Settimia Spizzichino. Rund 81 Jahre später stehen drei ihrer Großnichten, Grazia, Rivka und Sara, am vergangenen Montag (3. Februar) am Obelisken vor dem Petersdom und berichten einer Gruppe von Historikern und Theologen der Universität Münster mit Prof. Dr. Hubert Wolf von der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Spitze vom Schicksal ihrer Großtante und anderer Familienmitglieder, die die Nationalsozialisten in Auschwitz ermordeten. „Die Shoah wird immer ein Teil unserer Geschichte bleiben“, erzählt Sara Spizzichino. „Noch immer habe ich Angstattacken“, ergänzt ihre Schwester Rivka, „die Geschichte hat unsere Familie tief geprägt. Es besteht immer die Gefahr, dass die Angst den Mut besiegt. Aber wir haben gelernt, niemals aufzugeben.“

An ihrer Seite stehen heute Friederike und Tobias Wallbrecher, ein katholisches Ehepaar aus Deutschland, das seit 30 Jahren in Rom lebt. Sie haben im Jahr 2017 die Initiative „Ricordiamo insieme“ (dt. „Erinnern wir uns gemeinsam“) gegründet. An diesem Februarvormittag gehen sie erneut mit den Spizzichino-Schwestern die rund 1.000 Schritte vom Petersdom bis zur Militärakademie. Friederike Wallbrecher spricht von einer „dramatischen, schockierend kurzen Distanz, die den Vatikan damals vom Vorhof der Hölle von Auschwitz trennte“.

Bittbriefe als Zeugnisse von Gräuel und Angst

Zwischen dem Vatikan und dem Völkermord an den europäischen Juden besteht aber nicht nur diese räumliche Nähe in der italienischen Hauptstadt. Der Heilige Stuhl war Adressat Tausender Hilfegesuche von bedrohten und verfolgten Juden, die Hubert Wolf und sein Team seit fünf Jahren in ihrem viel beachteten Projekt „Asking the Pope for Help“ untersuchen. In einigen dieser Briefe bitten römische Juden Papst Pius XII. um Intervention und Hilfe angesichts der Verfolgung, Gewalt und Razzia im Rom der frühen 1940er Jahre, wie sie auch Settimia Spizzichino erlebte. Grazia, Sara und Rivka Spizzichino, das Ehepaar Wallbrecher und die übrigen Mitglieder der Delegation kennen nicht nur die Arbeit von Hubert Wolf und seinem Team – sie sind dem Direktor des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster und seinen Mitstreitern sogar spürbar dankbar für ihr wissenschaftliches Engagement. Die Forscher haben seit März 2020 rund 10.000 Bittschreiben jüdischer Menschen an den damaligen Papst Pius XII. in den vatikanischen Archiven entdeckt; mit finanzieller Unterstützung der „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“, der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, der Softwarefirma SAP und des Auswärtigen Amtes wollen sie in den kommenden Jahren die Hilferufe erschließen und aufarbeiten. „Jeder einzelne Brief erzählt aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines einzigartigen Menschen, emotional nahegehend“, beschreibt das Team seine Aufgabe. „Wir werden Zeuge von Gräueln und Entwürdigung, Verfolgung und Hunger, Deportation und Todesangst, aber auch von Hoffnung und Rettung. Menschen, deren Leben und Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten, erhalten wieder eine Stimme und ein unverwechselbares Gesicht.“ Auch die Geschichte der Spizzichinos mache deutlich, betont Hubert Wolf, „dass es wichtig ist, jedes einzelne Schicksal zu rekonstruieren“.

Jeder, der sich auch nur ansatzweise einem der 10.000 Fälle widmet, erfährt schnell, um welch diffizile Aufgabe es sich dabei handelt. Die meisten Petitionen, rund 5.500, sind auf Italienisch verfasst, gefolgt von Briefen auf Französisch, Deutsch, Englisch, Latein, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch und Ungarisch – viele handschriftlich und oft schwer zu lesen. Meistens bitten die Absender um Informationen über ihre Angehörigen, um Geld, gültige Papiere oder Fluchthilfe. In den Schreiben tauchen insgesamt rund 40.000 Namen auf; nicht selten wird der Name ein- und derselben Person unterschiedlich geschrieben. Infolgedessen ergibt sich für das Hochschul-Team eine Vielzahl von Fragen: Wer hat die Schreiben in den vatikanischen Behörden gelesen – und wie hat die jeweilige Person reagiert? Welche Bittschreiben hat man dem Papst direkt vorgelegt? Warum hat die Kurie in einem Fall geholfen und im nächsten Fall die Hilfe versagt? Wie haben andere Behörden, an die sich der Heilige Stuhl mit der Bitte um zusätzliche Unterstützung gewandt hat, reagiert? Mit jeder Antwort ergeben sich für die Experten oft sofort drei oder vier neue Fragen.

Papst Pius XII. schwieg aus Gründen der Neutralität

Nach fünf Jahren der Sichtung traut sich der Vatikan-Kenner Hubert Wolf erste Einschätzungen und Hypothesen zu. Demnach habe Papst Pius XII. rund ein Zehntel aller jüdischen Bittschreiben zur Kenntnis genommen. Zur Einordnung: Experten schätzen, dass die 10.000 Petitionen nur etwa drei Prozent aller je an Papst Pius XII. gerichteten sozialen und karitativen Anliegen während seines Pontifikats ausmachten. Das öffentliche Schweigen des Papstes zum Holocaust erklärt Hubert Wolf vor allem mit dessen großem Bestreben, sich allen damaligen Kriegsparteien gegenüber neutral zu verhalten. Im Geheimen habe der Vatikan gleichwohl vielen Bittschreibern konkret geholfen. Die präzise Rekonstruktion einiger Eingaben bestätigt schließlich die Vermutung Hubert Wolfs, dass es bei der Frage, ob der Vatikan half oder nicht, entscheidend darauf ankam, welcher Kurienmitarbeiter das Bittschreiben als Erster in Händen hielt. „Mit Blick auf die Philosemiten und Antisemiten, die es in den vatikanischen Behörden gab, plädieren wir deswegen für einen Paradigmenwechsel“, betont er. „Das Thema der Wissenschaft sollte nicht ,Papst Pius XII. und der der Holocaust‘ sein, sondern ,Die römische Kurie und der Holocaust‘.“

Drei Tage lang, beginnend am vergangenen Montag, haben Hubert Wolf und sein Team das Projekt verschiedenen Gruppen vorgestellt. Anschließend arbeiten sie mehrere Tage in den Archiven weiter und analysieren gemeinsam ihre Funde. Einer Einladung des deutschen Botschafters beim Heiligen Stuhl, Dr. Bernhard Kotsch, zur Projektpräsentation folgten am Dienstagabend fast 100 Persönlichkeiten aus Rom, darunter zahlreiche Botschafter anderer Länder. 90 Minuten lang schilderte das münstersche Team auf Basis der jeweiligen Bittbriefe die Schicksale mehrerer jüdischer Familien. Die Gäste hörten gebannt zu und spendeten am Ende großen Beifall. Und sie alle nickten, als ein Redner bereits zu Beginn des Abends in seinem Grußwort hervorhob, dass es sich bei „Asking the Pope for Help“ um ein Projekt „von nationalem Interesse handelt“.

Autor: Norbert Robers

Links zu dieser Meldung