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Münster (upm/hd).
Zahlreiche Spielfiguren in unterschiedlichen Farben symbolisieren die Parteienlandschaft in Deutschland. In der Mitte des Bildes liegt ein Zettel , auf dem ein schwarzer Kreis mit einem roten Kreuz abgebildet ist. Dies symbolisiert die Möglichkeit der Wahl zwischen den Parteien, wenn Ende Februar der neue Bundestag gewählt wird.<address>© stock.adobe.com - Ingo Bartussek</address>
Die Zusammensetzung des neuen Bundestags steht noch in den Sternen. Sicher ist nur: Die Parteiendemokratie steckt in schwierigen Zeiten.
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Ernste Krise und Chance zugleich?

Die Parteiendemokratie steht gegenwärtig und zukünftig vor großen Herausforderungen – ein Gastbeitrag von Silke Mende

Nicht erst seit dem Aus der Berliner Ampel-Regierung und der Ankündigung von Neuwahlen sind in der politischen Debatte in Deutschland Phänomene und Entwicklungen verstärkt in den Blick geraten, die sich bereits bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, aber auch in anderen europäischen Ländern beobachten ließen. Die hergebrachten parlamentarischen Funktionsmechanismen und eingeübten Spielregeln der westlich-liberalen Demokratie scheinen ins Rutschen gekommen zu sein. Es wird zunehmend schwierig, Mehrheiten zu erreichen und stabile Regierungen zu bilden. Frankreich und Österreich sind die aktuellsten Beispiele.

Der Diskurs über Krisenerscheinungen der Demokratie ist seither nahezu allgegenwärtig. So war und ist viel die Rede vom „Ende der Volksparteien“, von einer „Krise der Parteiendemokratie“ oder gar von einer „Krise der Repräsentation“ – um nur die häufigsten Schlagworte zu nennen.

Befeuert wird die Debatte durch den Aufstieg populistischer Bewegungen und die Wahlerfolge rechter und rechtsextremer Parteien. Zugleich werden kontroverse Themen wie Flucht und Migration, Krieg und Frieden lautstark und zunehmend unversöhnlich diskutiert. Weitere Politikfelder mit hohem Eskalationspotenzial sind Ökologie, Klima und Nachhaltigkeit. Waren diese zumindest eine Zeitlang auch mit hohen Wahlergebnissen grüner und ökologischer Parteien verbunden, so haben sie sich in den vergangenen Jahren zu regelrechten Reizthemen entwickelt, die politisch und gesellschaftlich polarisieren.

Porträtbild der Historikerin Prof. Dr. Silke Mende mit schwarzer Bluse und schwarzem Blazer.<address>© Lukas Walbaum</address>
Prof. Dr. Silke Mende
© Lukas Walbaum
Mit diesen Debatten und in diesen Debatten geraten zugleich die sogenannten „Volksparteien“ immer stärker unter Druck, und mit ihnen die klassischen politischen Denkrichtungen, also Sozialismus beziehungsweise Sozialdemokratie, Konservatismus beziehungsweise Christdemokratie sowie der klassische Liberalismus. Das, was wir lange Zeit als „politische Mitte“ bezeichnet haben, scheint zwischen unterschiedlichen, mitunter noch recht neuen parteipolitischen Akteur*innen, aber auch Playern außerhalb der Parlamente zerrieben zu werden. Dadurch droht auch das „Links-Rechts-Schema“, das uns lange Zeit als hilfreiches Ordnungs- und Analyseschema gedient hat, seine Erklärungskraft einzubüßen. Schließlich wird das hergebrachte Modell der repräsentativen Demokratie von verschiedenen Seiten und, das sei betont, mit unterschiedlichen Intentionen teilweise grundsätzlich infrage gestellt.

Den Hintergrund dafür bilden die wachsende Bedeutung von demokratisch nur schwach legitimierten Expertengremien, aber auch die zunehmende Auslagerung politischer Entscheidungen an neutrale Instanzen, wie etwa die Rechtsprechung. Das alles wird begleitet von einem neuen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“: Neue und nicht mehr ganz so neue Medien schaffen stark fragmentierte Teilöffentlichkeiten, die das parlamentarische Bohren dicker Bretter vor die Herausforderung anders getakteter Aufmerksamkeitsökonomien und Entscheidungsdynamiken stellen.

Auf der einen Seite stechen Gruppen und Parteien auf der äußersten rechten Seite des politischen Spektrums ins Auge, die, beflügelt durch wachsende Wahlerfolge, lautstark und mit teils altbekannten Vokabeln fundamentale „Systemkritik“ üben, sodass manche Beobachter*innen bereits das „Schreckbild Weimar“ an die Wand malen – zu sehr drängen sich aus ihrer Sicht Parallelen zwischen den „alten“ und den „neuen Zwanziger Jahren“ auf.

Auf der anderen Seite lassen sich unterschiedliche soziale und Protestbewegungen anführen, die auf vielfältige Formen von direkter Demokratie und Partizipation „von unten“ pochen. Sie befeuern Debatten über alternative oder zumindest ergänzende Modelle demokratischer Partizipation, die eine breitere Beteiligung an und dadurch eine höhere Legitimation von politischen Entscheidungsprozessen ermöglichen sollen. Etablierte Formen repräsentativer Demokratie sollen aus dieser Warte nicht ersetzt, sondern gezielt ergänzt werden. Bekannt geworden sind deliberative Modelle wie sogenannte Bürgerräte oder Bürgerdialoge. In Ostbelgien etwa berät seit 2019 ein ständiger Rat das Parlament regelmäßig in konkreten Fragen. Auch in Frankreich sowie Deutschland gibt es bekannte Versuche, wie die „Conventions Citoyennes pour le Climat (CCC)“, die Präsident Macron 2019 auch in Reaktion auf die sogenannte Gelbwesten-Bewegung ins Leben gerufen hat, oder ein im Jahr 2023 vom Bundestag einberufener Bürgerrat, der die Parlamentarier*innen zu Fragen von „Ernährung im Wandel“ beraten und im Februar 2024 ein „Bürgergutachten“ vorgelegt hat.

Derartige Vorschläge, die etablierten parlamentarischen Entscheidungsprozesse und Spielregeln zu ergänzen, können also auch als Chance begriffen werden, auf Unzufriedenheit mit Parlamentarismus und Parteiendemokratie zu reagieren und neuen Herausforderungen zu begegnen. Sie sind scharf zu trennen von jenen populistischen Versuchen, meist aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum, die parlamentarische Instanzen vorführen und demokratische Institutionen aushöhlen wollen, und damit eine ernsthafte Bedrohung für die parlamentarische Demokratie westlich-liberaler Prägung darstellen. Sich dieser Differenzierung bewusst zu sein, konstruktive Vorschläge abzuwägen und destruktive Versuche als solche zu benennen, ist eine der zentralen gegenwärtigen und wohl auch künftigen Herausforderungen der Parteiendemokratie.

Dr. Silke Mende ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte mit besonderer Berücksichtigung des 19. bis 21. Jahrhunderts am Historischen Seminar.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2025.

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