Wissenschaft mit Gruselfaktor
Die Halloween-Partys mit Totenschädel- und Mumien-Deko sind gerade vorbei. Das Forschungsthema von Lukas Kerk hingegen sorgt ganzjährig für schauriges Flair: Der Doktorand in der Abteilung für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie des Historischen Seminars beschäftigt sich mit permanenten Körpermodifikationen – also Praktiken, die den Körper dauerhaft verändern. Dazu gehören unter anderem Tätowierungen, geformte Schädel und Zahnfeilungen, außerdem gebe es aktuell neue Untersuchungen zu kulturell motivierten Fingeramputationen. „Körpermodifikationen sind weltweit verbreitet und für alle Epochen der Menschheitsgeschichte belegt“, betont er.
Seit seiner Bachelorarbeit über Tätowierungen auf vorgeschichtlichen Leichen vor zehn Jahren lässt ihn das Thema nicht mehr los. Dabei stieß er eher zufällig darauf: Bei Sichtung des Studienangebots blieb er direkt am Buchstaben A für Archäologie hängen. „Das Fach hatte keinen Numerus Clausus, also habe ich mich kurzentschlossen eingeschrieben. Direkt bei der ersten Lehrveranstaltung dachte ich ‚Wow, das ist ja spannend!‘. Und mir fiel wieder ein, dass ich als Kind oft mit meinem Großvater über die Äcker gegangen bin, um alte Scherben einzusammeln“, erinnert er sich lachend. Schon während des Bachelorstudiums fasste er den Plan, zu promovieren.
Dem ist er treu geblieben. Für seine Dissertation analysiert er weltweite Nachweise von dauerhaften Körpermodifikationen und macht sie für die deutsche Archäologie erstmals in monografischer Form zugänglich. Ein Thema sind Zahnfeilungen, die bei den Wikingern im Frühmittelalter wohl als Erkennungsmerkmal innerhalb einer Gruppe von Kaufleuten galten. „Es gab schon immer unterschiedliche Gründe für Körpermodifikationen. Sie waren nicht nur kultisch oder religiös motiviert“, erläutert der 35-Jährige. „Turmschädel“ von Wikingerfrauen, für die der Kopf bereits im Säuglingsalter etwa mit Hilfe von Stoffbinden oder anderen Hilfsmitteln in eine längliche Form gebracht wurde, seien vermutlich als Repräsentation eines sozialen Status zu verstehen. „Die Schädelmodifikationen der Olmeken in Mittelamerika von etwa 1500 bis um 400 vor unserer Zeitrechnung hatten dagegen unter anderem den Zweck, dem Maisgott nachzueifern.“ Andere Formen der Körperanpassung haben eher pragmatische Ursachen. Indigene Gruppen auf dem afrikanischen Kontinent wie die südafrikanischen Damara haben sich ihre Vorderzähne ausschlagen lassen, damit sie bestimmte Zischlaute besser sprechen können. Lukas Kerk interessiert dabei vor allem der soziokulturelle Kontext. „Was und wie kommunizieren Menschen mit ihrem Körper? Welches Verständnis von Körper liegt dem jeweils zugrunde?“ Auf solche grundsätzlichen Fragen möchte er Antworten finden.
Während die Praktiken in früheren Epochen im Kontext der Gemeinschaft standen, etwa als Initiationsritus am Übergang von einer Lebensphase in die nächste, seien die Gründe insbesondere in unserer Gesellschaft inzwischen höchst individuell und von der persönlichen Biografie geprägt. „Aber ritualisierte Modifikationen gibt es bis heute in vielen indigenen Völkern“, betont Lukas Kerk. Wenn er im Sommer durch die Straßen geht und die vielen tätowierten Menschen sieht, schaut er häufig genauer hin. „Viele Menschen sind heutzutage tätowiert, der geschichtliche Kontext ihrer Körperkunst ist ihnen aber nicht bewusst. Generell wissen wohl nur die Wenigsten, dass dies keine Erfindung der Neuzeit ist.“ Der Wissenschaftler möchte darüber aufklären und mit seiner Forschung ein breiteres Publikum ansprechen. So gibt er das soeben erschienene, reich bebilderte Sonderheft „Körperkult. Tattoos und Körpermodifikationen“ der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ heraus, das mit Rolf Buchholz auf dem Cover eine Brücke in die Gegenwart schlägt. Der Dortmunder war mit seinen vielfältigen Körpermodifikationen schon mehrmals im Guinness-Buch der Rekorde vertreten.
Und wie hält Lukas Kerk selbst es mit Tätowierungen und Co.? Geht ihm seine Forschung buchstäblich unter die Haut? Die Frage drängt sich auf. Die Antwort fällt bescheiden aus: Oberhalb des rechten Fußgelenks prangt ein Tattoo – das Logo der Melodic-Death-Metal-Band „Hiraes“, in der er seit der Gründung 2020 als Gitarrist spielt und für das Songwriting verantwortlich ist. Das Anfang 2024 erschienene zweite Album „Dormant“ erreichte Platz 36 der deutschen Albumcharts. Die Band spielt regelmäßig Konzerte in ganz Europa. „Das ist ein Fulltime-Hobby“, sagt der Rheinenser, der täglich nach Münster pendelt. In der Metal-Szene seien viele tätowiert, so dass sich auch hier immer wieder Bezüge zu seinem Forschungsthema auftun. „Ich komme häufig darüber mit Menschen ins Gespräch. Die meisten erzählen gern, was ihre Tattoos für sie bedeuten.“ Bei so viel historischer wie aktueller Inspiration wäre es doch an der Zeit für weitere eigene Körpermodifikationen ... Lukas Kerk lacht: „Vielleicht als Belohnung zum Abschluss meiner Doktorarbeit.“
Autorin: Anke Poppen
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 6. November 2024.