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Münster (upm/ap).
Christian Kreienbrinck und Jan Graefe nehmen die Luther-Handschrift in Augenschein.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Christian Kreienbrinck und Jan Graefe nehmen die Luther-Handschrift in Augenschein.
© Uni MS - Johannes Wulf

Höchste Sicherheitsvorkehrungen für Martin Luther

Teil 2: Kurier- und Notfalleinsatz für Jan Graefe im Bibelmuseum

Logo der Serie mit dem Schriftzug „Außeneinesatz“<address>© Uni MS - Linus Peikenkamp</address>
© Uni MS - Linus Peikenkamp
Auch in den Semesterferien gibt es an der Universität Münster allerhand zu tun. Die Redakteurinnen und Redakteure der Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit nutzen die vorlesungsfreie Zeit, um das eigene Büro zu verlassen und im Außeneinsatz Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität jeweils einen Tag lang zu begleiten.

An diesem sehr hellen sommerlichen Tag gewöhnen sich die Augen nur langsam an die Dunkelheit. Die rund 1.500 Exponate im Bibelmuseum sind so lichtempfindlich, dass die Ausstellungsstücke nur punktuell mit kleinen Strahlern beleuchtet werden. Schon dieser Kontrast macht deutlich: Das Museum ist eine eigene kleine Welt, in der der Kustos Dr. Jan Graefe das Publikum freundlich willkommen heißt.

Die Luther-Handschrift wird vorsichtig in die Ausstellungsvitrine gelegt.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Die Luther-Handschrift wird vorsichtig in die Ausstellungsvitrine gelegt.
© Uni MS - Johannes Wulf
Heute ist ein besonderer Tag. Zwölf Monate der Vorbereitungszeit neigen sich dem Ende zu. Kurz vor Eröffnung der dreifachen Jubiläumsausstellung „Kritische Analyse Heiliger Texte“ fällt in einer der beiden Vitrinen, die sich jeweils über die gesamte Wandlänge ziehen, ein freier Platz auf. Er ist für eine Originalhandschrift von Martin Luther zum biblischen Buch Jeremia aus dem Jahr 1530 reserviert. Ein Kunsttransportunternehmen hat das Exponat am Vortag angeliefert. Für 24 Stunden lag es verschlossen in der Kiste, damit es sich allmählich an die klimatischen Bedingungen gewöhnen kann – ähnlich wie ein Fisch, der aus der mit Wasser gefüllten Plastiktüte ins Aquarium entlassen wird.

Nur der eigens aus Gotha anreisende Kurier darf die Kiste öffnen, das Exponat entnehmen und in die Vitrine legen. Nur noch im Notfall darf sie geöffnet werden – Schutzauflagen der Leihgeberin, die Forschungsbibliothek Gotha. Was ein Notfall sein kann, zeigt eine unfreiwillige Kostprobe: Beim Gang durch den Ausstellungsraum fällt Jan Graefes wachsamer Blick auf eine aufgeschlagene Bibel, die etwas von ihrer Buchstütze gerutscht ist. Umgehend legt er das gute Stück vorsichtig wieder auf seinen Platz. „Unter solchen Umständen dürften wir die Vitrine auch betreten, nachdem die Luther-Handschrift ausgelegt wurde“, erläutert er. Trotzdem ist er froh, dass er den Fehler vorher beheben konnte.

Es dauert nicht lange bis zum nächsten Notfall: Gegen 12.30 Uhr stellt sich heraus, dass es ein Problem mit der Elektrik gibt. Der Türöffner und die Transponder sind ausgefallen, niemand kann hereingelassen werden. Jan Graefes erster Blick gilt der Klimaanlage – sie funktioniert. Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Bei unseren extrem empfindlichen Exponaten wäre das ein GAU“, erläutert er. Allerdings ist unklar, ob die Alarmanlage auch betroffen ist. Die Mittagspause fällt daher aus. „Bis das geklärt ist, muss ich auf jeden Fall hierbleiben.“

Jan Graefe lässt alles stehen und liegen und ruft beim Hausmeisterservice der Universität an. Wenig später machen sich drei Elektriker an der Anlage zu schaffen. Um den Alarm zu testen, brechen sie die Tür zum Stromversorgungsraum auf – und ein schriller Ton dringt durch die Pferdegasse. In diesem Fall ist das ein gutes Zeichen. Schnell ist der Schaden repariert und die Türöffnung funktioniert wieder. „Zum Glück ist jetzt alles wieder in Ordnung, bevor der Kurier kommt. Das hätte keinen guten Eindruck gemacht“, lacht Jan Graefe, als die kurze Anspannung von ihm abfällt.

Wenn er sich nicht gerade um ausgefallene Alarmanlagen kümmert oder auf einen Kurier wartet, widmet sich der 45-jährige studierte Historiker seinem Tagesgeschäft, das er mit den Schlagwörtern „sammeln, bewahren, forschen, vermitteln“ zusammenfasst. So konzipiert er gemeinsam mit dem Direktor des Bibelmuseums, Prof. Dr. Holger Strutwolf, die turnusmäßigen Ausstellungen zu Ostern und Weihnachten sowie die Sonderausstellungen in den Sommermonaten. Dabei greifen sie auch Impulse der studentischen Hilfskräfte auf, die die meisten Besucherführungen nach Schulungen durch Jan Graefe übernehmen: „Durch den direkten Publikumskontakt erfahren die Studierenden, was unsere Gäste interessiert. Außerdem bringen sie natürlich eine jüngere Perspektive ein.“ Die sei auch beim Bildungsprogramm für Kinder erforderlich, denn das Bibelwissen in der jungen Generation schwinde.

Manchmal schaffen es auch geschenkte Bibeln in die Ausstellung. „Wir bekommen häufig Anfragen aus der Bevölkerung, ob wir Interesse an alten Bibeln haben, etwa bei Haushaltsauflösungen. Die Sichtung ähnelt Weihnachten: Man weiß nicht, was in der Kiste drin ist, aber irgendetwas Schönes ist meistens dabei“, schildert Jan Graefe. Einige Exemplare aus der Sammlung werfen Forschungsfragen auf, wie eine Lutherbibel, deren genaues Erscheinungsjahr noch nicht geklärt ist, da das Titelblatt fehlt.

Jan Graefe nimmt die Briefe des Handschriftenforschers Konstantin von Tischendorf aus dem 19. Jahrhundert aus dem Transportumschlag.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Jan Graefe nimmt die Briefe des Handschriftenforschers Konstantin von Tischendorf aus dem 19. Jahrhundert aus dem Transportumschlag.
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Zurück zu den aktuellen Geschehnissen. Bis zur Ankunft des Kuriers bleibt noch etwa eine halbe Stunde. Zeit genug, um eine weitere Leihgabe aus ihrer Transportverpackung zu befreien. Es handelt sich um Original-Briefe des Handschriftenforschers Konstantin von Tischendorf an Prinz Friedrich August II. von Sachsen, in denen er ihn Mitte des 19. Jahrhunderts über den Fund des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster auf dem Sinai informiert, eine der bedeutendsten spätantiken Bibelhandschriften aus dem 4. Jahrhundert. Jan Graefe öffnet vorsichtig den dicken Umschlag aus Pappe und holt die mehrfach in Schutzpapier eingeschlagenen Briefbögen heraus, auf denen die elegante Handschrift Tischendorfs zum Vorschein kommt. „Sogar die Adresse ist erhalten“, stellt er erfreut fest und beschließt, das Blatt ebenfalls mit in die Ausstellung zu nehmen.

Ein erster Blick auf die Briefe, in denen Konstantin von Tischendorf Prinz Friedrich August II. von Sachsen über den Fund des Codex Sinaiticus informiert.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Ein erster Blick auf die Briefe, in denen Konstantin von Tischendorf Prinz Friedrich August II. von Sachsen über den Fund des Codex Sinaiticus informiert.
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Um 14.10 Uhr das ersehnte Klingeln: Der Kurier ist da. Jan Graefe begrüßt Christian Kreienbrink freudig und führt ihn kurz durch die neue Ausstellung. Dann ist es so weit: Die Transportbox wird geöffnet. „Das ist immer ein besonders aufregender Moment“, sagt Jan Graefe. Spannung liegt in der Luft. Zunächst kommt nur einiges an Verpackungsmaterial zum Vorschein. Dann eine unscheinbare graue Papierschachtel, aus der Christian Kreienbrinck schließlich das Buch nimmt und behutsam aufschlägt. Nun sehen wir die Original-Handschrift Martin Luthers. Begeistert beugen sich beide über das Buch und blättern vorsichtig durch die Seiten – barhändig, denn wie sich herausgestellt hat, führt das Blättern mit Handschuhen häufiger zu Knicken auf den Seiten. Für die Ausstellung soll die Seite sechs aufgeschlagen werden. Der Kurier fixiert das aufgeschlagene Buch mit zwei Streifen aus Baumwollpapier. „Das ist nicht so scharfkantig wie Kunststoffstreifen, aber genauso stabil und schonender für das Exponat“, erläutert er. Danach legt er das Buch auf der passgenau zugeschnittenen Stütze ab, bringt einen Erschütterungsmelder an, und alles zusammen kommt in die Vitrine. Gegen 15 Uhr unterzeichnen beide das Übergabeprotokoll, in dem die Ausleihbedingungen, der Versicherungswert und eine genaue Zustandsbeschreibung des Objekts festgehalten sind. Fertig.

Christian Kreienbrinck (links) nimmt die Original-Handschrift Martin Luthers aus dem Jahr 1530 aus der Transportbox.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Christian Kreienbrinck (links) nimmt die Original-Handschrift Martin Luthers aus dem Jahr 1530 aus der Transportbox.
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Anschließend geht es noch mit dem Auto zum LIT-Verlag. Zwischendurch kam ein Anruf, dass der Ausstellungskatalog fertig gedruckt ist und abgeholt werden kann. „Das ist super, dann können wir morgen beim Pressegang den Journalisten direkt ein Exemplar in die Hand drücken.“ Jan Graefe macht sich auf den Weg. Tür funktioniert, Handschriften da, Katalog ausgeliefert – die Schau kann losgehen.

Autorin: Anke Poppen

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