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Münster (upm).
Foto eines dreibeinigen Roboter-Prototyps<address>© Northwestern University</address>
Eine Forschergruppe um den Informatiker Prof. Sam Kriegman von der US-amerikanischen Northwestern University entwarf 2013 unter Einsatz von KI einen Algorithmus, der einen effizienten dreibeinigen Roboter-Prototypen generierte – ein menschlicher Entwickler wäre nicht auf die Idee gekommen.
© Northwestern University

Ideenevolution – wie KI uns weiterhelfen kann

Mit künstlicher Intelligenz gegen den Strich denken - ein Gastbeitrag von Wissenschaftsjournalistin Manuela Lenzen

Menschen möchten wissen, wie Geschichten weitergehen. Das gilt für Streaming-Serien, und es gilt erst recht für die größte Geschichte von allen: die Evolution des Lebens auf der Erde. Arten verändern sich, und auch, wer einst die Erde beherrschte, kann untergehen – oder den Weg vom Dinosaurier zum Haushuhn antreten. Was also wird aus dem Menschen werden? Wem wird er das Feld räumen müssen?

In vielen Visionen über den Fortgang der Evolutionsgeschichte kommt hier die künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel. In den eher düsteren Vorstellungen verliert die Menschheit das evolutionäre Wettrennen gegen sich immer schneller verbessernde und längst außer Kontrolle geratene Maschinen. Die Menschen gehen unter, können sich aber immerhin rühmen, die neuen Herrscher in die Welt gesetzt zu haben. Etwas positiver liest sich die Prognose des KI-Pioniers Jürgen Schmidhuber, der zufolge die superintelligenten künstlichen Wesen die Erde hinter sich lassen und in den Weltraum aufbrechen werden, einfach, weil es dort ergiebigere Energiequellen gibt.

Aber vielleicht muss der Mensch das Feld gar nicht für die Maschinen räumen, sondern kann mit ihnen zusammengehen? Folgt man den Überlegungen Paul Raineys, der am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön arbeitet, müsste man die Menschen nur verpflichten, sich mit KI-Geräten auszustatten, die sie ihr Leben lang begleiten, und den Inhalt dieser Geräte auf die Geräte ihrer Kinder zu kopieren. So wäre die Klippe umschifft, dass KI-Systeme sich zwar verbessern, aber nicht fortpflanzen können. Wie einst selbstständige Zellen zu Organellen größerer Zellen wurden, könnten KI-Geräte und der Mensch zu einer größeren, klügeren und im evolutionären Sinne angepassteren Einheit der Evolution werden.

Radikalere Visionen sehen den Menschen auf dem Weg zum Cyborg. Auf diesem würde er durch immer mehr technische Implantate dasselbe Ziel verfolgen: immer klüger und langlebiger zu werden. Die natürliche Selektion wäre weitgehend ausgeschaltet, stattdessen hätte der Mensch selbst die Regie über seine Weiterentwicklung übernommen. Eine Extremform dieser Fantasie sieht vor, das menschliche Bewusstsein in eine Maschine „hochzuladen“ und damit unsterblich zu werden. So wäre die Evolutionsgeschichte, zumindest die des Menschen, an ihr Ende gelangt.

Wieder andere denken den Einsatz von KI-Verfahren weiter, die in der (evolutions-)biologischen Forschung ohnehin zum Einsatz kommen. Mithilfe lernender Algorithmen lassen sich auf der Basis großer Datenmengen evolutionäre Prozesse viel genauer nachvollziehen, evolutionäre Stammbäume verfeinern, die Bedeutung bestimmter Gene für evolutionäre Entwicklungen bestimmen.

Mit diesen Verfahren kann man nicht nur in die Vergangenheit blicken. Man kann sie auch verwenden, um zu prognostizieren, wie die Evolution weitergehen könnte, kann die Entwicklung von Populationen bei unterschiedlichen Bedingungen simulieren oder mögliche evolutionäre Folgen von Genmanipulationen abschätzen.

Anwendungsszenarien reichen von Bestrebungen, Pflanzen besser für den Klimawandel zu wappnen, bis zu der Idee, den Menschen statt mit elektronischen Bausteinen mithilfe neu entwickelter Proteine oder ganzer Gene zu verbessern. Im Extrem, so wurde bereits diskutiert, könnte die Menschheit sich in verschiedene Arten aufspalten: Die, die es sich leisten können, lassen sich genetisch aufbessern, während die anderen sich weiterhin mit ihrer natürlichen genetischen Ausstattung bescheiden müssen.

Der Prozess der Evolution ist komplex und die mit großen Datenmengen trainierten Algorithmen versprechen, diese Komplexität nachvollziehbar und handhabbar zu machen. Während der Transfer von Bewusstsein in eine Maschine ebenso ins Reich der Fantasie gehört wie die autonome Weiterentwicklung der Roboter, wird man die Veränderung des Menschen mithilfe biologischer wie technischer Verfahren – und hoffentlich mit der gebotenen Vorsicht – erproben. Inwieweit das seine Evolution beeinflussen wird, ist bei aller Neugier auf die Fortsetzung der Geschichte nicht absehbar.

Portraitfoto Dr. Manuela Lenzen<address>© Martin Klaus</address>
Dr. Manuela Lenzen ist Philosophin und schreibt als freie Wissenschaftsjournalistin über Evolutionsforschung, Kognitionswissenschaften und Künstliche Intelligenz.
© Martin Klaus
Vielleicht liegt der wirklich wichtige Beitrag der künstlichen Intelligenz für die Zukunft des Menschen in einem anderen Bereich: Sie könnte uns helfen, eingefahrene menschliche Denkgewohnheiten zu überwinden und einen frischen Blick auf unsere Probleme zu werfen. Wie zum Beispiel baut man einen Roboter, der laufen kann? Dem Menschen fallen Zwei-, Vier- und vielleicht noch Sechsbeiner ein, die evolutionären Klassiker. Forscher um Sam Kriegman von der Northwestern University hingegen entwarfen einen Algorithmus, der in Sekundenschnelle den Plan eines Körpers mit drei dicken Beinen in einer Reihe entwickelte, hässlich, stabil und energieeffizient, an den Flaschenhälsen der Evolution vorbei und auch an der beschränkten Fantasie der Wissenschaftler. „Instant Evolution“ nennen sie die Methode.

Vielleicht sollten wir die großen Visionen hintenanstellen und uns von der KI helfen lassen, mehr gegen den Strich zu denken: Architekturen, Stoffkombinationen oder Versuchsaufbauten zu testen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben – und vielleicht doch genau richtig sind. Damit beschert uns die KI zwar weder einen Sprung in der menschlichen Evolution noch einen superklugen Nachfolger, aber vielleicht einige gute Ideen. Wir könnten sie gebrauchen, um die Probleme zu lösen, die für den Bestand unserer Art derzeit wirklich relevant sind, vom Klimawandel bis zum friedlichen Zusammenleben.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 17. Juli 2024.

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