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Münster (upm).
Fotos von Saumfingerechse mit Luftblase und männlicher Prachtbiene<address>© Lindsey Swierk, Thomas Eltz</address>
Saumfingerechsen und männliche Prachtbienen haben Verhaltensweisen entwickelt, die den Arten evolutionäre Vorteile bringen.
© Lindsey Swierk, Thomas Eltz

Das Verhalten von Tieren und die Evolution

Ein Gastbeitrag der Biologen Niklas Kästner und Tobias Zimmermann, Betreiber des Online-Magazins „ETHOlogisch – Verhalten verstehen“

Eine Maus, die in einem Loch verschwindet, eine Biene, die eine Blüte ansteuert, eine Amsel, die aus voller Kehle singt: Wir sind umgeben von Tieren, die auf eine bestimmte Art mit ihrer Umgebung interagieren – sie verhalten sich. Anders als molekular- oder zellbiologischen Prozesse, lässt sich das Verhalten von Tieren für gewöhnlich mit bloßem Auge beobachten. Doch während wir mit relativ einfachen Mitteln feststellen können, wie sich ein Tier verhält, ist die Frage nach dem „Warum“ deutlich komplexer. Ihr mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund zu gehen, ist eine zentrale Aufgabe der Verhaltensbiologie. Dabei hat der Verhaltensforscher und spätere Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen bereits in den 1960er Jahren erkannt, dass wir vier unterschiedliche Ebenen berücksichtigen müssen, wenn wir das Verhalten von Tieren verstehen wollen.

Der Mechanismus: Wie wird das Verhalten gesteuert?

Eine dieser Ebenen ist der zugrundeliegende Mechanismus. Damit sind die Prozesse gemeint, die das Verhalten unmittelbar steuern. So haben Forscher beispielsweise kürzlich entschlüsselt, dass bei der Partnerwahl von Fruchtfliegen ein Hormon eine entscheidende Rolle spielt: Die Weibchen sind bei der Suche nach einem Paarungspartner zunächst wenig wählerisch – dies ändert sich jedoch, nachdem sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt haben. Erklären lässt sich dieses Phänomen auf mechanistischer Ebene offenbar dadurch, dass die erste Paarung zu einer vermehrten Ausschüttung des sogenannten Juvenilhormons führt. Dieses bedingt, dass die weiblichen Fliegen zukünftig Männchen vorziehen, die besonders viele Lockstoffe verströmen.

Die Lebensgeschichte: Welche Rolle spielen Erfahrungen für das Verhalten?

Das Beispiel der Fruchtfliegen zeigt: Wie sich ein Tier verhält, kann sich durch Erfahrungen im Zuge seiner individuellen Lebensgeschichte verändern. In der Vergangenheit kam in diesem Zusammenhang oft die Frage auf, ob eine bestimmte Verhaltensweise angeboren oder erlernt ist. Inzwischen wissen wir, dass eine solch starre Unterscheidung in den meisten Fällen nicht möglich ist, weil sowohl genetische Faktoren als auch Erfahrungen eine Rolle spielen – je nach Verhaltensweise allerdings zu unterschiedlichen Anteilen. So zeichnen sich beispielsweise viele Singvögel durch einen arttypischen Gesang aus. Dabei ist genetisch vorgegeben, dass sie diesen während einer sensiblen Phase zu Beginn ihres Lebens erlernen. Wie sie aber letztlich singen, hängt erheblich von ihren Erfahrungen ab, denn sie übernehmen den Gesang von Artgenossen in ihrer Umgebung. Dadurch können bei Vögeln sogar regionale Dialekte entstehen – ähnlich wie bei uns Menschen.

Die Funktion: Warum ist das Verhalten entstanden?

Die Funktion eines Verhaltens ist eine weitere wichtige Ebene der verhaltensbiologischen Forschung. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Tiere sind wie alle Lebewesen von der Evolution geformt worden. Manche Individuen haben sich dank eines bestimmten Verhaltens erfolgreicher fortgepflanzt als andere, und dieses Verhalten haben sie an ihre Nachkommen vererbt. Es gibt also einen Grund dafür, dass sich ein bestimmtes Verhalten entwickelt hat – und diesen bezeichnet man als seine Funktion.

Ein Männchen der Prachtbienenart Euglossa dilemma.<address>© Thomas Eltz</address>
Ein Männchen der Prachtbienenart Euglossa dilemma.
© Thomas Eltz
Zum Beispiel sammeln männliche Prachtbienen Duftstoffe aus Orchideenblüten, lösen sie in einer fettreichen Substanz und speichern sie in speziellen Taschen an ihren Hinterbeinen. Die Vermutung lag nahe, dass dieses selbst angemischte „Parfüm“ bei der Fortpflanzung der Insekten eine Rolle spielt. Lange blieb aber unklar, ob es der Abschreckung gleichgeschlechtlicher Konkurrenten dient oder die Weibchen beeindrucken soll. Ein Experiment entschied diese Frage im Jahr 2023 recht eindeutig: Der Duftcocktail lässt andere Männchen kalt – erhöht aber deutlich ihren Erfolg bei den Weibchen.

Die Stammesgeschichte: Wie und wann ist das Verhalten entstanden?

Daneben untersucht die Verhaltensbiologie auch, wann beziehungsweise wie sich ein Verhalten im Zuge der Stammesgeschichte entwickelt hat. Da ein direkter Blick in die Vergangenheit nicht möglich ist, greift die Forschung mitunter zu einem Trick: Sie vergleicht das Verhalten heute lebender Arten und versucht so Rückschlüsse auf dessen evolutionäre Entwicklung zu ziehen. Beispielsweise gibt es aktuell über 200 Prachtbienen-Arten – und bei allen tragen die Männchen Taschen zum Sammeln von Duftstoffen an den Hinterbeinen. Dieses außergewöhnliche Verhalten hat sich demnach vermutlich bereits bei einem Vorfahren dieser Spezies entwickelt.

Eine Saumfingerechse unter Wasser – mit gut sichtbarer Luftblase.<address>© Lindsey Swierk</address>
Eine Saumfingerechse unter Wasser – mit gut sichtbarer Luftblase.
© Lindsey Swierk
Anders ist die Situation offenbar bei Saumfingerechsen, bei denen Forscher vor einigen Jahren eine faszinierende Atemtechnik entdeckt haben. So tauchen manche der Reptilien zur Nahrungssuche oder zur Flucht vor Fressfeinden mitunter in Fließgewässern. Dort atmen die Tiere wiederholt eine Luftblase aus und wieder ein, wobei sie nach und nach den darin noch vorhandenen Sauerstoff verbrauchen. Voraussetzung dafür ist offenbar die wasserabweisende Haut der Tiere, die dazu führt, dass die Luftblase mit ihrem Körper verbunden bleibt. Doch während alle Saumfingerechsen über derartige Hauteigenschaften verfügen, praktizieren nur einzelne Arten diese ausgeprägte Unterwasseratmung. Da diese Spezies nicht besonders nah miteinander verwandt sind, liegt der Schluss nahe, dass sich die besondere Atemtechnik im Zuge der Evolution mehrfach unabhängig voneinander entwickelt hat – als Anpassung an eine Lebensweise, bei der sich längere Tauchgänge als vorteilhaft erwiesen haben.

Verhalten und Evolution

Fassen wir zusammen: Wenn wir ein Verhalten vollständig erklären wollen, müssen wir ergründen, welche Mechanismen ihm zugrunde liegen, wie es durch Erfahrungen im Zuge der Lebensgeschichte geformt wird, welche Funktion es erfüllt und wann beziehungsweise wie es im Verlauf der Stammesgeschichte entstanden ist. Die letzten beiden Ebenen beziehen sich dabei unmittelbar auf die Evolution. Doch auch für die beiden anderen ist die evolutionäre Vergangenheit der Art von Bedeutung, da sie ausschlaggebend dafür ist, wie ein Verhalten gesteuert und durch Erfahrungen geformt wird.

Dr. Tobias Zimmermann (links) und Dr. Niklas Kästner erforschten in der Abteilung für Verhaltensbiologie der Universität Münster als Doktoranden und Postdocs, wie soziale Erfahrungen und genetische Faktoren das Verhalten von Tieren formen. Seit 2020 betreiben sie das Online-Magazin „ETHOlogisch – Verhalten verstehen“, in dem sie über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Verhalten, Denken und Fühlen von Tieren informieren.<address>© Inga Zimmermann</address>
Dr. Tobias Zimmermann (links) und Dr. Niklas Kästner erforschten in der Abteilung für Verhaltensbiologie der Universität Münster als Doktoranden und Postdocs, wie soziale Erfahrungen und genetische Faktoren das Verhalten von Tieren formen. Seit 2020 betreiben sie das Online-Magazin „ETHOlogisch – Verhalten verstehen“, in dem sie über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Verhalten, Denken und Fühlen von Tieren informieren.
© Inga Zimmermann
Das zeigt, wie zentral evolutionsbiologische Überlegungen für die Erforschung des Tierverhaltens sind. Der Grund dafür ist simpel: Alle heute lebenden Organismen sind das Ergebnis eines Milliarden Jahre währenden evolutiven Prozesses. Wenn wir sie verstehen wollen, geht das nur vor diesem Hintergrund. Besonders treffend hat das der Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky einst auf den Punkt gebracht. Er betitelte im Jahr 1973 einen Artikel mit dem Satz: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.“ Diese Aussage gilt auch 50 Jahre später uneingeschränkt – für das Verhalten von Tieren ebenso wie für jedes andere ihrer Merkmale.

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