Evolution steht im Dialog mit Theologie
Das Vorurteil eines vermeintlichen Konflikts zwischen Evolutionstheorie und theologischem Schöpfungsverständnis hält sich hartnäckig. Es beruht auf der Vermittlung der Evolutionstheorie in Deutschland und Kontinentaleuropa durch den Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919). Er überdehnte Charles Darwins Evolutionstheorie zu einer materialistisch-atheistischen Weltanschauung. Der britische Naturforscher Darwin, der sich gelegentlich als Theist bezeichnete, also eine göttliche Ordnung hinter dem Universum nicht ausschloss, lehnte eine solche Überdehnung seiner Evolutionstheorie ab. Tatsächlich bietet sie vielfältige Ansätze für einen Dialog mit der Theologie.
Im angelsächsischen Raum wurde dieser Dialog von Anfang an geführt, denn sowohl der biblische Schöpfungsbericht als auch die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte verwiesen bereits auf den kreativen schöpferischen Entwicklungsprozess. In 1 Mose 1,11f. heißt es: „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut [...]. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut“. Später folgt Analoges zum Hervorgehen der Tiere aus dem Wasser und der Erde, wobei die Kreativität gleichzeitig als Gottes Handeln gilt: „Und Gott machte die Tiere [...]“ (1 Mose 1,25).
Zwischen dem schöpferischen Handeln Gottes und der Vermittlung durch andere Geschöpfe besteht also kein Widerspruch. Der Kirchenvater Gregor von Nyssa (ca. 331–395) sprach von einer der Schöpfung eingegebenen Keimkraft des Lebens, aus deren Anfang das Einzelne und Wunderbares entstand. Augustin (354–430) verglich die Welt mit einem Samen, in dem alles angelegt ist. Und der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (1401–1464) betonte, dass der dreieinige Gott die Welt mit einer alles entfaltenden evolutiven Kreativität ausgestattet hat. Auch die im Schöpfungsbericht (1 Mose 1,1–2,4a) dargelegte Reihenfolge der kosmologischen, biologischen, kulturellen und religiösen Entstehungsprozesse entspricht den evolutionstheoretischen Einsichten.
Zudem ist die mit der Evolutionstheorie verbundene Dynamik, die in die kosmische Dynamik von Anfang, prozessualer Entwicklung und Ende des Kosmos eingebunden ist, kompatibel mit dem dynamisch-heilsgeschichtlichen Handeln von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Der als die vollkommene Gemeinschaft der Liebe geltende dreieinige Gott (1 Joh 4,8.16) schenkt der Natur und den Menschen in Schöpfung, Erlösung und Vollendung Anteil an seiner Liebe, was er trotz der Abwendung der Menschen von ihm vollenden wird. Die Besonderheit des in die Natur eingebundenen Menschen, dem Gott durch personales Bewusstsein und Sprache eine besondere Kreativität und Verantwortung zuteilt, tritt auch in der sich ständig weiterentwickelnden Evolutionstheorie hervor. Durch die außergewöhnliche Dimension seines Geistes und Bewusstseins kann der Mensch der Evolution gegenübertreten, so dass sich die Evolution im Menschen selbst gegenübertritt.
Er ist in der Lage, die Natur zu transzendieren beziehungsweise über sie hinauszuweisen. Mit der damit einhergehenden Sinn- und Zielfrage sowie der erfahrbaren Selbsttranszendenz des Menschen wird auch die Religion zu einer von der Evolution selbst gestellten Frage. Im zur personalen Gemeinschaft mit Gott bestimmten Menschen ist die Offenheit für Gott als erfahrbare und orientierende Dimension endgültig in die Schöpfung eingegangen. Gleichzeitig trägt der Mensch wegen seiner Verflochtenheit mit den Naturprozessen eine besondere Verantwortung: Das menschliche Verhalten kann aus biblischer Perspektive die ganze Schöpfung korrumpieren. Nach heutigen evolutionstheoretischen und physikalischen Einsichten sind die Naturprozesse von konstitutiver Relationalität geprägt, also von gegenseitigen Beziehungen. Darin spiegeln sich die im dreieinigen Gott existierenden konstitutiven Beziehungen beziehungsweise Relationen wider (Spuren des Schöpfers in der Schöpfung).
Die Epigenetik etwa zeigt die grundlegende Wechselwirkung beziehungsweise Relationalität zwischen genetischer Information und dem gesamten Lebenskontext auf. Gegenüber der herkömmlichen evolutionsbiologischen Betonung des Kampfes ums Überleben oder der Selektion gegen die weniger Angepassten kommt zum Vorschein, dass die Entwicklungsprozesse maßgeblich auch von harmonischer Symbiose und gegenseitigem Dasein sowie von Kooperation geprägt sind. Letzteres betrifft im Kontext der kulturellen Evolution besonders die kooperativen Anlagen des Menschen, für die im biblischen Kontext etwa die noch darüber hinausgehende Nächstenliebe steht. Weil der Mensch diese Dimensionen verletzt hat, sind sie bisher unvollendet geblieben.
Das in den Naturprozessen zu beobachtende Zusammenspiel von Regelhaftigkeit und Spontanität bildet durch verlässliche Strukturen (Regelhaftigkeit) und neue Möglichkeiten (Spontanität) die Voraussetzung für das Entstehen und Erhalten von Leben. Hierin spiegelt sich das Handeln des dreieinigen Gottes wider, das Gott der Vater im Sohn und im Heiligen Geist vollzieht: Der Sohn Gottes, nach dem und auf den hin alles geschaffen wurde (Joh 1,3; Kol 1,16f.), verkörpert das generative Prinzip der Selbständigkeit der Geschöpfe. Er ist der ordnende Logos (Gottes Wort), der als Ausdruck der Treue Gottes die Regelhaftigkeit und naturgesetzliche Ordnung gewährt und so die Entstehung dauerhafter Gestalten ermöglicht. Der die dynamische Gemeinschaft innerhalb der Dreieinigkeit vollziehende Heilige Geist steht seinem Wesen gemäß nach außen für die Gemeinschaft mit Gott und für die Dynamik und Spontanität der Naturprozesse (Gottes Zukunftshandeln). Regelhaftigkeit und Spontanität eröffnen im Zusammenspiel von Verlässlichkeit und Offenheit die Freiheitsräume für die Gemeinschaft von Gott und Mensch sowie für die von Gott getragene Kreativität der Schöpfung.
Autor Dr. Matthias Haudel ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät.
Das Buch zum Thema:
Matthias Haudel: Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vorurteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis. Mit einem Geleitwort zur 2. Auflage von Harald Lesch, Vandenhoeck & Ruprecht/UTB, Göttingen 2021, 2. Aufl. 2023.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 4. April 2024.