Wasser, Wasser, Koffein?
„Uns fehlt die Gabe, die Dinge so zu schmecken, wie sie sind.“ Wenngleich der französische Abt und Theologe Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153) damit vermutlich auf Wahrheitsfindung im philosophisch-übertragenen Sinn anspielte, so mache ich mir dieses Zitat zu eigen, weil ich dank eines Selbstversuchs feststellen durfte, dass es um meinen Geschmackssinn im wörtlichen Sinn schlecht bestellt zu sein scheint. Zu dieser Feststellung kam ich nach meinem Besuch des Seminars „Molekulare Sensorik“ des Instituts für Lebensmittelchemie, in dem Masterstudierende im ersten Semester zusammenkommen, um etwas über das Schmecken zu lernen.
Im Sensorikversuch, den die Studierenden in Kleingruppen durchlaufen, geht es (leider) nicht darum, sich durch ein Feinkostbuffet zu schmecken, sondern feinste Unterschiede kleiner Proben in Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben wahrzunehmen. Von diesen steht eine Vielzahl auf den Tischen des sonst unscheinbaren Raums im dritten Obergeschoss des Instituts an der Corrensstraße. Doch bevor es losgeht, gibt der Kursleiter eine kurze Einführung in den Versuchsablauf. Gleich fünf verschiedene Stationen warten auf uns: die Schwellenprüfung, die Unterschiedsprüfung, die Rangordnungsprüfung, die beschreibende und bewertende Prüfung sowie ein „Temporal Check-All-That-Apply“, in dem es um die Veränderung des Geschmacks im zeitlichen Verlauf geht. Wichtig ist, und die Informationen kamen vorab per E-Mail, dass die Teilnehmer vor dem Versuch weder rauchen noch alkoholische Getränke zu sich nehmen, weder zu satt noch zu hungrig oder durstig erscheinen, vorher auf stark gewürzte Speisen verzichten und keine stark riechenden Kosmetika tragen. Nur so lässt sich ein möglichst gutes, störungsfreies Ergebnis im Selbstversuch erzielen.
Der Selbstversuch stellt sich schnell als Test der eigenen Ausdauer heraus. 79 Proben stehen zur Verkostung bereit. Ein jeder muss also 79-mal die Pipette in das Gefäß einführen, um jeweils mindestens einen Milliliter Lösung zu entnehmen, 79 Schlucke, dazu der obligatorische Schluck Wasser nach jeder Probe, um den vorherigen Geschmack zu neutralisieren. Macht zusammen einen wahren Schluck- und Schmeckmarathon, der insgesamt fast 90 Minuten dauert.
Zunächst steht die Schwellenprüfung an – mit sechs mal sieben Proben der aufwendigste Test. Es geht darum, die Lösungen mit aufsteigender Intensität zu probieren, bis man den jeweiligen Geschmack der Versuchsreihe wahrnimmt. So sollen Saccharose, Natriumglutamat, Kochsalz, Tannin, Koffein und Zitronensäure zu schmecken sein. Doch das wissen wir Teilnehmer nicht, darauf müssen wir selbst kommen. Ich schmecke nicht viel. Bis auf die Bitterkeit des Koffeins tappe ich im Dunkeln und habe fast durchgehend das Gefühl, dass ich nur Wasser schmecke. Schon die erste Prüfung lässt erahnen, dass Bernhard von Clairvaux Recht hatte, denn meine Geschmacksknospen sind eindeutig nicht auf der Höhe. Dabei rauche ich nicht, bin nicht erkältet und trinke ausreichend Wasser – alles Faktoren, die zusätzlich den Geschmackssinn beeinflussen können.
Ob der vielen Unsicherheiten und dem Gefühl, dass es mehr ums Raten als ums Wissen geht, wird im Kurs viel gelacht. Doch aufgrund der vielen Proben und der verschiedenen Geschmäcker herrscht irgendwann Skepsis vor, was als nächstes kommen mag. Auf die Schwellen- folgt die Unterschiedsprüfung, die einer Geschmacksexplosion gleichkommt. Nachdem die Schwellenprüfung mit sehr niedrigen Konzentrationen arbeitete, gibt es in der Unterschiedsprüfung Brühe mit einem hohen Gehalt an Salz und Glutamat. Doch herauszuschmecken, welche der Proben intensiver schmeckt, ist nicht leicht. Einen ähnlichen Versuch gibt es noch mit Apfelsaft, in dem wir bestimmen müssen, welche Probe süßer schmeckt. Auch hier gilt: Die Unsicherheit ist groß. Inzwischen bin ich froh, dass es sich um einen bloßen Selbstversuch handelt und nicht um eine Prüfungssituation ...
Und plötzlich gibt es ihn, den Lichtblick. In einem Test muss ich feststellen, welche von jeweils zwei Proben mit der Kontrollprobe (Wasser) übereinstimmt und in welcher Koffein gelöst ist. Von vier Probenpaaren habe ich, wie sich am Ende herausstellt, drei richtig. Nicht schlecht für jemanden, der so gut wie nie Koffein konsumiert. Es folgen zwei weitere Tests, einer mit Orangensaft, bei dem das Rätselraten von vorne beginnt. So lässt mich der Selbstversuch etwas ratlos zurück, da ich immer dachte, Schmecken wäre nicht so schwer, kommt ja immerhin täglich vor. Etwas enttäuscht verlasse ich das Institut, aber auch hungrig. Denn das Schmecken all der kleinen Dosen, insbesondere der Brühe, hat Lust darauf gemacht, mehr zu mir zu nehmen als milliliterweise Lösungen aus Reagenzgläsern.
Wie funktioniert der Geschmackssinn?
Am wichtigsten für das Schmecken ist die Zunge. Auf ihr befinden sich die sogenannten Geschmackspapillen, kleine Erhebungen, über die die Geschmacksstoffe aufgenommen und verarbeitet werden. Verantwortlich dafür sind die Sinneszellen im Inneren der Geschmacksknospen. Die von ihnen aufgenommenen und ans Gehirn übertragenen Informationen werden mit den Informationen des Geruchssinns zusammengebracht – erst so entsteht ein reichhaltiges Geschmackserlebnis. Aktueller Konsens ist, dass es fünf Geschmacksrichtungen gibt: süß, sauer, salzig, bitter und umami.
Autor: André Bednarz
Die Serie „Sinn-voll“
Sehen, hören, tasten, schmecken und riechen: Die fünf Sinne sind im Alltag wichtig, aber sie spielen auch in der Wissenschaft eine zentrale Rolle. Zum einen dienen sie als Mittel zur Erkenntnis, andererseits sind sie mitunter Gegenstand der Forschung. Wir stellen Ihnen in dieser Serie einige Orte an der Universität vor, an denen Sinneseindrücke im Mittelpunkt stehen.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 31. Januar 2024.