Alles unlösbar?
Kriege, Krisen und Konflikte: Die Welt befindet sich im Dauerstress. Nationale wie internationale Hiobsbotschaften dominieren die Nachrichten und lassen uns oft überfordert zurück. Die gesellschaftliche und parteipolitische Polarisierung, der Ukrainekrieg, der Nahostkonflikt: Gibt es Ansätze, die zu einer Lösung oder zumindest Befriedung führen können? Drei Wissenschaftler ordnen die Lage ein.
Wir benötigen eine Friedenskultur
Multiple und synchrone Krisen, antidemokratische und religionsfanatische Ideologien, offenbar unlösbare Konflikte und vor allem Kriege prägen unsere Zeit. Sie gehen uns alle nachhaltig und unbedingt an, denn wir müssen unser Dasein im Kontext dieser Krisen und Kriege bewältigen. Eine Superlösung ist nicht in Sicht, aber die Abwesenheit des Friedens im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, national und international, ist sehr wohl wahrnehmbar.
Dabei bleibt der Frieden uneindeutig. Diese Uneindeutigkeit scheint nicht zuletzt darin zu liegen, dass wir den Frieden aus der Abwesenheit der (personalen, strukturellen oder kulturellen) Gewalt heraus bestimmen. Dass eine indirekte und gewaltbezogene Bestimmung des Friedens nicht genügt, zeigt unsere Unfähigkeit, Konflikten mit einer Friedenshaltung zu begegnen. Pazifismus wirkt infantil, realitätsfern; Persönlichkeiten des Friedens, ob Martin Luther King, Nelson Mandela oder Mohandas Gandhi wirken wie Reliquien einer vergangenen Zeit, die nur eine antiquarische Bedeutung haben. Doch diese utopische Realität, die keinen Raum mehr für einen bedingungslosen Frieden hat, haben wir selbst geschaffen. Nicht der Frieden ist heute problematisch geworden, sondern wir selbst, das heißt die Vorstellung, wonach wir uns und unsere Welt betrachten. Es ist doch ein zivilisatorischer Bankrott, wenn wir hinnehmen, dass Kriege dazugehören, dass das Auslöschen eines kindlichen Lebens zu einem vertretbaren Konzept des humanistisch-aufgeklärten Lebens gehört, das wir mittragen.
Auf der Basis einer freiheitlich-demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, die die Diversität der Lebensentwürfe internalisiert hat, benötigen wir eine Friedenskultur. Der Frieden im Zuge einer Revitalisierung der universellen Werte muss dabei als eine existenzielle, dialogische, religiöse und vor allem gesamtgesellschaftliche Kompetenz wahrgenommen werden und unabdingbar zur Bildung gehören. Die Kultivierung einer umfassenden Friedensbildung gilt als Aufgabe und Auftrag unserer Zeit.
Dr. Milad Karimi ist Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik und stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie.
Ohne Streit gibt es keine Bildung
Die gegenwärtigen Krisen und Konflikte machen auch vor dem Bildungssystem nicht Halt. Schulen und andere Bildungseinrichtungen sind selbst zu Konfliktarenen geworden, in denen nicht nur über den richtigen Umgang mit den Krisen gestritten wird, sondern auch darüber, was überhaupt eine angemessene Wahrnehmung der jeweiligen Krise ist. In der Pluralität der Sichtweisen und Einstellungen kommen auch tiefgreifende Dissense zum Vorschein, die sich durch rationalen Diskurs nicht auflösen lassen. Eine solche „agonale Pluralität“ stellt gerade für pädagogische Handlungsfelder eine Herausforderung dar, die doch fortlaufend mit der unbedingten Norm konfrontiert werden, Pluralität als harmonische und bereichernde „Diversity“ wahrzunehmen.
Die Herausforderung durch agonale Pluralität könnte aber auch zum Anlass genommen werden, an etwas zu erinnern, was für moderne Pädagogik eigentlich nichts Neues ist: dass der Streit zum Verhältnis der Generationen hinzugehört, dass beim Streiten unter der Bedingung der Demokratie weder Natur noch Tradition feste Orientierungsgrößen bieten und dass bildende Auseinandersetzungen ergebnisoffene Prozesse sind und nicht einfach das Erreichen vorab festgelegter Lernziele.
Es gehört zum Alltagsgeschäft moderner Pädagogik, Lebensprobleme in Bildungsprobleme zu verwandeln. Hierin besteht gewissermaßen der für das Bildungssystem spezifische Modus der Problembearbeitung. Die Lebensprobleme werden dadurch freilich nicht gelöst, auch wenn Bildungsinstitutionen immer wieder mit genau dieser Erwartung konfrontiert werden. Wenn alles unlösbar erscheint, schießen die Erwartungen an Bildung und Erziehung ins Kraut. In den 1970er-Jahren führten die ersten unübersehbaren Zeichen einer ökologischen Krise zur Etablierung der Umweltbildung, während der Ost-West-Konflikt die Friedenspädagogik hervorbrachte. Angesichts der Vielzahl gegenwärtiger Krisen setzt man heute auf generalisierte „conflict resolution skills“. Dieses Muster ist so stabil, weil es mit einer Win-win-Situation verbunden ist: Die Politik kann Verantwortung delegieren und die Aufmerksamkeit auf einen anderen Schauplatz lenken, während die Pädagogik davon profitiert, dass man ihr so viel zutraut.
Die persistente Pädagogisierung gesellschaftlicher Krisen ist Teil des Problems. Krisen werden stets im Horizont künftiger Lösungen gedacht, und Pädagogik wird zum Instrument der Herbeiführung einer vorweggenommenen Zukunft. Erst die Unterbrechung dieses Musters könnte Bedingungen für bildende Auseinandersetzungen schaffen. Dabei gibt es keine Garantie, dass der Streit stets „pädagogisch wertvoll“ ist, aber ohne Streit keine Bildung.
Dr. Johannes Bellmann ist Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft.
Die Herrschaft des Rechts ist das Maß aller Dinge
Bis vor einem Jahrzehnt schien die Welt erfolgreich die Entwicklung einer regelbasierten globalen Ordnung mit dem Ziel voranzutreiben, die Herrschaft der Stärkeren durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen. Heute sind davon nur noch Trümmer übrig. Aufgeben dürfen wir das aber nicht, und wenn seit der Gründung des Völkerbundes auch noch so viele Anläufe gescheitert sind, so müssen wir eben einen weiteren Anlauf nehmen. Geht das aber ausgerechnet in der heutigen multiplen Krisenlage? Die Antwort lautet: Wann, wenn nicht jetzt?
Aus zwei Gründen wird in der globalen Herrschaft des Rechts oft nur ein Werkzeug der Herrschaft des Westens gesehen: erstens, weil die Herrschaft des Rechts eine westliche Idee ist, und zweitens, weil sich der Westen oft selbst nicht an diese Regeln hält. Despoten interessiert das daraus folgende Schicksal der betroffenen Menschen natürlich nicht. So wie Putin seinen faschistoiden Krieg nicht zum Schutz der Russen führt, so verübt die Hamas ihren niederträchtigen Terror nicht zum Schutz der Palästinenser. Aber wo immer der Westen seine eigenen Werte verrät, öffnet er ihnen reichhaltige Quellen, aus denen sie genüsslich neuen Hass sprudeln lassen können. Hass und Perspektivlosigkeit sind die nicht versiegen wollende Quelle des Nahostkonflikts, aus der sich die Motivation immer neuer Generationen fanatischer Kämpfer speist. Zu seiner Lösung gehört einerseits eine klare Ansage an alle jene, die sich aus dieser Quelle bedienen. Hamas und Hisbollah kann man dabei ohne militärische Gewalt nicht beikommen. Aber die Quelle, aus der deren Kämpfer sprudeln, kann er durch eigenes völkerrechtstreues Verhalten durchaus schwächen. Die Duldung religiös-fanatischer Siedler im Westjordanland ist damit jedenfalls nicht vereinbar.
Wenn die Herrschaft des Rechts der richtige Weg in eine friedliche Welt ist, dann muss der Westen auf diesem Weg voranschreiten. Abwege wie jenen in Vietnam, im Irak und auch jener im Westjordanland darf er sich nicht mehr leisten.
Dr. Thomas Apolte ist Professor für ökonomische Politikanalyse an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 13. Dezember 2023.