Ein Schatz für die Ohren
„Die Ohren sind das wichtigste Werkzeug der Musikethnologen“, sagt Musikwissenschaftler Prof. Dr. Ralf Jäger. In seinem Institut an der Philippistraße gibt es viel Futter für diesen Sinneskanal. Denn die Universität Münster beherbergt die bedeutende musikethnologische Sammlung von Wolf Dietrich. Der Mathematiker und Musikethnologe hat bis zu seinem Tod im Jahr 2014 auf unzähligen Tonträgern Mitschnitte aus seiner Feldforschung gesammelt. Die Aufnahmen stammen aus Griechenland, Zypern, der Türkei und vielen weiteren, vor allem vorderasiatischen Ländern. „Wir sind auf solche auditiven Quellen angewiesen“, unterstreicht Ralf Jäger. „Sie bilden die Basis der musikethnologischen Forschung.“
Als Wolf Dietrich vor gut zehn Jahren im Rahmen eines Griechenland-Seminars in Münster einen Gastvortrag hielt, wusste Ralf Jäger noch nichts von dessen schwerer Erkrankung. „Beim Essen hat er mir davon erzählt und fragte, ob wir an seiner Sammlung interessiert wären.“ Der Musikethnologe aus Münster nahm das Angebot gerne an. „Jetzt haben wir einen wahren Schatz und sind dabei, ihn zu heben.“ Das bedeutet konkret, dass der Professor zusammen mit den studentischen Mitarbeitern Benedikt Münch und Benjamin Sturm die Sammlung digitalisiert. Um zu sehen, wie man solche Daten in einer Audiodatenbank bereitstellen kann, arbeiten die Münsteraner in einem Pilotprojekt mit dem Fachinformationsdienst Musikwissenschaft „musiconn“ zusammen, dessen Partner die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden ist.
Zu der Sammlung, untergebracht in zwei Räumen im Untergeschoss der Musikwissenschaft, gehört ein großer Buchbestand, darunter vieles aus Zentralasien, „was man sonst nirgendwo bekommt“. Erschlossen ist die Literatur mittlerweile weitgehend, ein Teil ist im Katalog der Universitäts- und Landesbibliothek zu finden. Zwei große Schränke enthalten CDs mit Musik aus allen Teilen der Welt. Mehrere Regalmeter mit Schallplatten und Tonbändern gilt es noch zu digitalisieren. Bei den Tonbändern handelt es sich um Unikate. Besondere Vorsicht ist also geboten, denn manche davon sind aufgrund ihres Alters gefährdet. So dient die Digitalisierung nicht nur der Zugänglichkeit des Archivs, sondern auch dazu, die kostbaren Aufnahmen überhaupt zu erhalten. „Tontechniker aus Dresden vermitteln uns technisches Wissen dafür“, berichtet Ralf Jäger. Der Nachlass von Wolf Dietrich umfasst zudem aktenordnerweise Notizen zu den Aufnahmen, mit viel Akribie zusammengetragen: kurze Abschnitte von Melodien in Notenschrift, Textzeilen von Gesängen sowie Beobachtungen zu Tonalität und anderen musikalischen Besonderheiten. Seine Aufzeichnungen verfasste der Feldforscher in der jeweiligen Landessprache, etwa auf Griechisch, Türkisch oder Albanisch.
Audio-Archive sind für die Musikethnologie von zentraler Bedeutung. „Unser Fach konnte überhaupt erst entstehen, als Ende des 19. Jahrhunderts der Edison-Phonograph erfunden wurde“, erläutert Ralf Jäger. „Damit hatten Musikethnologen erstmals die Möglichkeit, mit objektiven Tonaufzeichnungen zu arbeiten. Das Berliner Phonogramm-Archiv, bis heute eins der bedeutendsten weltweit, ist im späten 19. Jahrhundert gegründet worden.“ Seitdem seien Archive in der ganzen Welt entstanden. „Alle großen Bibliotheken haben solche Sammlungen aufgebaut, zum Beispiel die British Library.“ In Deutschland habe sich das Center for World Music in Hildesheim, das die Sammlung des Musikethnologen Dr. Wolfgang Laade beherbergt, als weiterer wichtiger Forschungsstandort entwickelt. „Das würde ich mir für Münster auch wünschen.“
Schon jetzt zieht die Sammlung Dietrichs international Aufmerksamkeit auf sich. Seit Anfang Oktober forscht Prof. Dr. Songül Karahasanoğlu von der Technischen Universität Istanbul als Stipendiatin der Universität Münster zu den türkischen Aufnahmen. Die Wissenschaftlerin hat ein Fellowship für ihre Arbeit erhalten und ist begeistert vom Material aus der Feldforschung. Zwar hat sie ein gutes Dutzend seltene Bücher aus der dazugehörigen Bibliothek vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und weiß auch den Schallplatten- und CD-Bestand zu schätzen, aber besonders die hohe Qualität der Tonbänder habe sie überrascht. „Ich bin der Universität Münster dankbar, dass ich hier mit dieser hervorragenden Sammlung arbeiten darf.“
Autorin: Brigitte Heeke
Die Serie „Sinn-voll“:
Sehen, hören, tasten, schmecken und riechen: Die fünf Sinne sind im Alltag wichtig, aber sie spielen auch in der Wissenschaft eine zentrale Rolle. Zum einen dienen sie als Mittel zur Erkenntnis, andererseits sind sie mitunter Gegenstand der Forschung. Wir stellen Ihnen in dieser Serie einige Orte an der Universität vor, an denen Sinneseindrücke im Mittelpunkt stehen.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 8. November 2023.