Kleine Wörter, große Wirkung
Pronomen sind klein und unscheinbar. In Grammatiken und linguistischen Aufsätzen spielen sie üblicherweise eher Nebenrollen. Verglichen mit der Gruppe der Nomen oder Verben, in denen es praktisch durchgehend Änderungen gibt, zum Beispiel neue Vokabeln aus anderen Sprachen, gelten Pronomen als relativ stabil. Ihre Verwendung sagt jedoch einiges über die Sprecherinnen und Sprecher aus. Gerade im mündlichen Sprachgebrauch erlauben sie Einblicke in das soziale Miteinander. Eine Forschungsgruppe der Universitäten Münster, Hamburg und Duisburg-Essen nimmt diese Funktionen derzeit genauer in den Blick – sowohl aus historischer (diachroner) als auch aus der Gegenwarts-Perspektive.
Da ist zum einen das „wir“. Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Susanne Günthner beschäftigt sich seit Jahren mit onkologischen Aufklärungsgesprächen. „Dabei werden Patienten einberufen, die zum ersten Mal mit der Diagnose Krebs konfrontiert werden“, erläutert die Germanistin. Sie arbeitet mit mündlichen Quellen, das heißt authentischen Gesprächssituationen zwischen Ärzten und Patienten, und kooperiert mit dem Klinikum Karlsruhe, das sich im Gegenzug erhofft, die Kommunikation weiterzuentwickeln und zu verbessern.
In den Gesprächen hat Susanne Günthner entdeckt, dass die Verwendung des Pronomens „wir“ verschiedene, mitunter widersprüchliche Aufgaben übernimmt. Manchmal inkludiere es die adressierten Patienten und Begleitpersonen („Wir sehen uns am Mittwoch wieder“). Teils gehe es jedoch gerade um das „wir“ des medizinischen Personals, also eine Abgrenzung zu den Patienten und deren Begleitung („Den Befund klären wir noch ab“). Das klischeehafte „Krankenpflege-Wir“ („Wie geht es uns denn heute?“) käme in den Gesprächen hingegen praktisch nie vor, unterstreicht Susanne Günthner. Weitaus häufiger hören die Patienten ein „Das schaffen wir“. Das vermittle eine soziale Gemeinsamkeit im Umgang mit der Krankheit. „Insgesamt zeigen die Gespräche, dass die Pronomen überraschend vielfältig verwendet werden, vor allem um anzuzeigen, wer dazugehört und wer nicht“, fasst die Wissenschaftlerin zusammen.
Um das unpersönliche Pronomen „man“ geht es in der Forschung von Prof. Dr. Antje Dammel. „Wir fragen zunächst, wie sich aus einem Wort für ‚Mensch‘ sprachhistorisch dieses Pronomen entwickelt hat“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Außerdem wollen wir herausfinden, in welchen Funktionen ‚man‘ im älteren Deutsch eingesetzt wird. Das geht nur im Vergleich vieler verschiedener Textgattungen.“ Dazu zählen frühneuzeitliche Pesttraktate und Hexenverhörprotokolle ebenso wie Musterdialoge aus historischen Sprachlehrwerken, etwa eine Anleitung zum richtigen Feilschen für angehende Kaufleute. Das „man“ wird in diesen verschiedenen Quellen höchst unterschiedlich eingesetzt: manchmal formelhaft wie in der Frage „Wo helt er sich auff, wann mans wissen darf?“ aus einem Sprachbuch von 1620/1621. In frühen Zeitungen erfüllt das Pronomen auch eine Art Korrespondentenfunktion, zum Beispiel „Man hört aus Venedig, dass die Preise gestiegen sind“. Das Verwendungsspektrum von „man“ zeige besonders deutlich, wie Menschen mit Pronomen Position zu Sachverhalten beziehen, findet die Germanistin. „Vieles wird aber nur über den Kontext klar. Deshalb ist es wichtig, sich den Gebrauch anzuschauen.“
Einsilbige Subjektpronomen im Singular stehen im Mittelpunkt der Forschung von Dr. Jens Philipp Lanwer: einerseits „ich, du, man“ und auf der anderen Seite die Verwendung von „sie/die“ und „er/der“. Als Basis dienen Aufzeichnungen von Tischgesprächen aus Norddeutschland im Umfang von etwa 26 Stunden, die ein Team aus Münster bereits aufbereitet hatte. Schon jetzt zeichnen sich dem Sprachwissenschaftler zufolge vielversprechende Erkenntnisse ab. „Bei der Verwendung von ,du‘ in generischen Aussagen – zum Beispiel in ,dann kommst du da so rein ...‘ – möchten die Sprecher anderen ihre Erfahrungen zugänglich machen und sie wie mit einer Kamerafahrt mitnehmen.“ Die Gespräche zeigen: „Menschen reagieren darauf häufig direkter als bei generischen Formulierungen mit ‚man‘.“
Jedes Pronomen scheint zudem besonders oft in Nachbarschaft zu einem bestimmten anderen Wort zu stehen. So tritt beispielsweise das „man“ bevorzugt nach oder vor „wenn“ und „kann“ auf. Phonetisch fallen hier typische Zusammenziehungen auf, beispielsweise als „wemman“ und „kamman“. Ob jemand von „er“ oder „der“ spreche, korrespondiere wahrscheinlich mit der jeweiligen Perspektive. „In jeder Kommunikation geht es ja darum, eine gemeinsame Vorstellung aufzubauen“, erläutert Jens Lanwer. „Wir leiten aus den Daten die Regeln ab, wie das funktioniert und welche Rolle dabei die Pronomen spielen.“
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 8. November 2023.