„Fortschrittliche muslimische Denker versuchen ein zukunftsoffenes Verständnis der Scharia zu bieten“
Vom 10. bis 12. Juli findet die vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ ausgerichtete Tagung „Islamisches Recht im Schmelztiegel des modernen Staates: Probleme und Perspektiven“ im Schloss der Universität Münster statt – die Teilnehmer beleuchten das islamische Recht in den Rechtssystemen von mehrheitlich muslimischen Staaten. Organisiert wird die internationale Konferenz von den Rechtswissenschaftlern Prof. Dr. Thomas Gutmann und Dr. Bahman Khodadadi, der von Münster an das Center for the Study of Islamic Law and Civilization an der Yale Law School wechselt. Im Gespräch mit Kathrin Nolte und Norbert Robers beschreiben die beiden Wissenschaftler, wie die islamische Rechtsordnung im Vergleich zum deutschen System aufgebaut ist und welche Rolle moderne Aspekte wie die religiöse Neutralität des Staates sowie individuelle Grund- und Menschenrechte spielen.
Wodurch ist das islamische Recht gekennzeichnet – auch im Vergleich zu unserer Rechtsordnung?
Bahman Khodadadi: Das primäre Ziel des islamischen Rechts ist die Durchsetzung göttlicher Gebote oder die Umsetzung einer bestimmten ideologischen Haltung eines religiös motivierten oder sich religiös legitimierenden Gesetzgebers. Im islamischen Recht wird die Vernunft von der Grundlage der Rechtsgeltung zu einer Quelle von Regeln herabgestuft. Sie ist lediglich eine Methode, um aus islamischen Quellen wie dem Koran und der Sunna Urteile abzuleiten und stellt daher keine unabhängige Instanz dar.
Das bedeutet, dass islamische Werte und Normen bei der Gesetzgebung und Rechtsdurchsetzung eine wichtige Rolle spielen?
Thomas Gutmann: Ja, das ist richtig. Bestimmte islamische Werte und Normen, die im Koran und in den Überlieferungen festgelegt sind, werden in der Gesetzgebung und bei der Durchsetzung der Gesetze sehr ernst genommen. Zu diesen Normen gehören beispielsweise solche über körperliche Strafen, Erbschaft, Blutgeld, das Sorgerecht, die Altersgrenze für die Schuldfähigkeit oder Vorschriften zur Kleiderordnung.
Inwieweit gibt es denn überhaupt „eine islamische Rechtsordnung“ – ist das nicht wie bei den Europäern auch eine Sache jedes einzelnen Staates?
Khodadadi: Richtig. Muslimische Länder lassen sich in verschiedene Regierungsformen einteilen, die sich danach richten, welche Rolle die Religion in und nach ihrer Verfassung spielt. Während die Konstitutionen einiger heutiger muslimischer Länder darauf hinweisen, dass die Scharia, also die Gesamtheit des islamischen Gesetzes, eine Rechtsquelle ist, heißt es in anderen, dass keine Regelung im Widerspruch zur islamischen Rechtsprechung stehen darf, oder es wird sogar erklärt, dass alle Gesetze nach islamischen Kriterien erlassen werden müssen. Abgesehen von den Unterschieden haben sie aber bestimmte gemeinsame Grundwerte, die in den heiligen Schriften des Islams erwähnt werden.
Sie sprechen im Tagungstitel vom „islamischem Recht im Schmelztiegel des modernen Staates“. Was ist damit konkret gemeint?
Khodadadi: Moderne Gesellschaften erzeugen überall in der Welt den gleichen normativen Problemdruck. Alle Kulturen und Rechtstraditionen müssen sich, wie es der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas ausdrückt, mit denselben Grundtatsachen der gesellschaftlichen Moderne auseinandersetzen. Das ist der ,Schmelzofen‘. Die zunächst ‚westliche‘ Moderne hat hierfür – im Prozess einer Säkularisierung des Rechts – Konzepte entwickelt wie die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, den Konstitutionalismus, den Rechtsstaat sowie individuelle Grund- und Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit. Es stellt sich die Frage, ob das islamische Recht dem entweder etwas funktional Äquivalentes an die Seite stellen kann. Oder ob islamische Werte und Normen, die von islamischen Staaten auf unterschiedliche Weise in ihre Rechtssysteme übernommen wurden, mit den Konzepten der normativen Moderne in Einklang gebracht werden können. Zudem stellt sich die Frage, ob sie zu diesen vielleicht sogar einen eigenen Beitrag zu leisten vermögen.
Welche Rolle spielen Menschenrechte, Würde und Autonomie in muslimischen Ländern in der Debatte um muslimische Rechtssysteme?
Gutmann: Diese Konzepte stehen im Mittelpunkt der Diskussionen sowohl der Kritiker als auch der Apologeten, der Befürworter dieser Anschauung. Während die erste Gruppe diese Konzepte und Prinzipien verwendet, um die muslimischen Rechtssysteme an ihnen zu messen und sie wegen ihrer Verletzung zu kritisieren, betonen die muslimischen Apologeten ein islamisches Verständnis der Konzepte, indem sie auf Vorstellungen eines kulturellen Relativismus zurückgreifen und die universalistischen Ansprüche der Menschenrechtsidee zurückweisen.
Erkennen Sie in der jüngeren Vergangenheit beziehungsweise aktuell eine Weiterentwicklung des islamischen Rechts?
Gutmann: Während wir in der Praxis gerade den Aufstieg einer rückwärtsgewandten islamischen Orthodoxie in Afghanistan vor Augen haben, kann man zugleich anregende Debatten unter fortschrittlichen muslimischen Denkern beobachten. Sie versuchen, ein zukunftsoffenes Verständnis der Scharia zu bieten, indem sie sich auf die internen Ressourcen der islamischen Rechtsprechung und Rechtslehre konzentrieren.