Vor der Arbeit steht die Suche nach einer gemeinsamen Sprache
Vorstellung zweier Forschungsprojekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Wissenschaftlicher Austausch und Interdisziplinarität sind die Grundlage für exzellente Forschung. Wie bereichert die fächerübergreifende Zusammenarbeit den Erkenntnisgewinn? Welche Hürden gilt es im Arbeitsalltag zu überwinden? Diese und weitere Fragen veranschaulichen wir mit der Vorstellung von zwei Forschungsprojekten aus den Geistes- und Sozialwissenschaften.
DFG-Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“
„Zunächst mussten wir uns zusammenraufen“, schildert Jörg Becker. Seit drei Jahren arbeiten die acht Antragssteller zusammen. Vor der Abgabe des rund 300 Seiten starken Antrags trafen sie sich einmal in der Woche. Nicht zuletzt, um voneinander zu lernen. Für Wirtschaftsinformatiker ist beispielweise das Referenzinformationsmodell, das bei der Entwicklung und Umsetzung betriebswirtschaftlicher Softwarelösungen Anwendung findet, eine gängige Arbeitsmethode. Soziologen nutzen zum Beispiel die „sozial-ökologische Forschungsheuristik“, um Strategien zur Lösung gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsprobleme zu entwickeln. Sie verknüpft gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Perspektiven. „Die ausgefeilten Methoden, die wir in unseren fünf Fächern anwenden, sind sehr unterschiedlich – deren Kombination in unserem Projekt führt zu neuen Erkenntnissen“, erklärt Jörg Becker. „Wir schauen uns jetzt nicht mehr verwirrt an, wenn wir die Begriffe verwenden.“ Mittlerweile haben sich der Koordinator und die elf wissenschaftlich Beschäftigten auf eine Arbeitsgrundlage für die Teilprojekte geeinigt – auf den sogenannten Befähigungsansatz, den der indische Ökonom Amartya Sen entwickelt hat. Die Forschungsgruppe nimmt mit „Zivilgesellschaft und soziale Leistungen“, „Verwaltung und Politik“, „Wirtschaft und Energie“ sowie „Bildung und Kultur“ vier zentrale Aspekte in den Fokus. Und dazu passt der aus den Sozialwissenschaften stammende Befähigungsgrundsatz wunderbar: Schließlich geht es dabei um die Frage, was der Mensch für ein gutes und erfülltes Leben benötigt.
„Wir müssen einen gemeinsamen Werkzeugkasten entwickeln, damit wir nicht aneinander vorbeireden“, unterstreicht Co-Sprecherin Prof. Dr. Dorothea Schulz vom Institut für Ethnologie. Während die Erforschung von Artefakten zu den Kernthemen einiger geisteswissenschaftlicher Disziplinen gehört, haben andere geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer erst in der jüngsten Vergangenheit damit begonnen, Artefakte und ihre Einbettung in sich verändernde soziale und historische Zusammenhänge in den Fokus zu rücken. „Diese in Münster vorhandene einzigartige Kombination aus empirisch-beschreibender und systematisch-normativer Expertise zu Artefakten wollen wir zusammenbringen“, führt Achim Lichtenberger aus. Ein Beispiel ist die Diskussion um die Objektbiografie. Altertums- und Geschichtswissenschaftler erfassen mithilfe dieser Methode die Lebensgeschichte von Objekten. Sozial- und Kulturanthropologen befürchten hingegen, dass das Konzept der Veränderlichkeit von Objekten und ihrer Bewertung durch Menschen, die aus ihrer transnationalen Mobilität erwachsen, nicht ausreichend Rechnung trägt. Für das Projekt gilt es, einen für alle Disziplinen gangbaren Weg zu finden.
Autorin: Kathrin Nolte
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 3. Mai 2023.