„Dieser Detailgrad ist verblüffend“
Als die große Kiste mit dem Gerät im September 2022 angeliefert wurde, begrüßten die Mitglieder der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Christos Gatsogiannis am Center for Soft Nanoscience (SoN) der Universität Münster die wertvolle Fracht freudig: „Hug the box“, die Kiste umarmen – so will es eine Tradition der „Kryo-EM-Forschungsgemeinde“. Keine Frage: Das neue Hochleistungs-Kryoelektronenmikroskop (Kryo-EM) ist etwas Besonderes. Mittlerweile ist das Gerät installiert und in Betrieb genommen. Rund 20 Arbeitsgruppen sowie Forschungsverbünde aus der Medizin, Biologie und Chemie werden es nutzen.
Deutschlandweit gibt es nur wenige Geräte dieser Leistungsklasse; an der Universität Münster ist es das erste seiner Art. Bis vor wenigen Jahren war es undenkbar, kleinste Bestandteile von Zellen in dieser Auflösung abzubilden, bis hin zu einzelnen Atomen. „Auch für mich ist dieser Detailgrad verblüffend, obwohl ich schon lange in diesem Bereich tätig bin“, sagt Christos Gatsogiannis. Neben Einblicken in die Zellen wollen die Forscher die Strukturen einzelner Proteine visualisieren und dadurch ihre Funktionsweise verstehen.
„Für die Universität und für den Forschungsstandort Münster ist diese hochmoderne Ausstattung von enormer Bedeutung“, betont Prof. Dr. Monika Stoll, Prorektorin für Forschung der WWU. „Die WWU ist eine der führenden Hochschulen auf dem Gebiet der multiskaligen Bildgebung. Das neue Gerät trägt entscheidend dazu bei, dass sie in diesem Bereich international wettbewerbsfähig bleibt.“ Der Zugang zu dieser Schlüsselmethodik werde zahlreiche interdisziplinäre Forschungsbereiche revolutionieren, ergänzt der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Frank Ulrich Müller. „Das Kryo-EM ist für die Weiterentwicklung der Forschungsprofile der Universität und der Medizinischen Fakultät äußerst bedeutsam.“
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Land Nordrhein-Westfalen hatten im Rahmen des Förderprogramms „Forschungsgroßgeräte“ insgesamt 7,5 Millionen Euro für die Ausstattung zur Verfügung gestellt. Neben dem Hochleistungs-Kryo-EM komplettieren zwei weitere Geräte das „Gesamtpaket“: ein automatisiertes Screening-Elektronenmikroskop, das eine optimale Vorauswahl der Proben ermöglicht, und ein Kryo-fokussiertes-Ionenstrahl-/Rasterelektronenmikroskop, das zur Präparation der Proben benötigt wird.
Die besondere bauliche Ausstattung des SoN war Voraussetzung für die Anschaffung des Mikroskops. So muss der Raum, im dem das Kryo-EM steht, vibrationsfrei sein. Experten bauten deswegen einen fast perfekt schwingungsgedämpften Boden ein, zudem ist der Raum gegen störende Magnetfelder abgeschirmt. „Normalerweise werden Elektronenmikroskope im Keller von Forschungsgebäuden installiert, um solche Störungen zu vermeiden. In unserem Institut befinden sich die Geräte in einem speziellen Bereich im ersten Stock, der mit Erde bedeckt ist“, beschreibt Christos Gatsogiannis.
Mit der WWU-Cloud steht schließlich eine IT-Infrastruktur zur Verfügung, die den gewaltigen Anforderungen solcher Großgeräte gewachsen ist. „Wenn das Gerät voll in Betrieb ist, erwarten wir ein Datenaufkommen von etwa zwei Petabyte, also rund einer Million Gigabyte pro Jahr“, berichtet Dr. Raimund Vogl, Leiter der WWU IT. Für die Prozessierung der Daten steht an der WWU der Hochleistungsrechner „PALMA II“ zur Verfügung.
Von Christina Hoppenbrock
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 29. März 2023.
Hochleistungs-Kryoelektronenmikroskopie an der WWU
Die Kryo-EM ist eine Variante der Transmissionselektronenmikroskopie. Dabei werden mikroskopische Objekte mithilfe von Elektronenstrahlen bei kryogenen, also extrem niedrigen, Temperaturen abgebildet. Das neue Hochleistungs-Kryo-EM erreicht eine Auflösung von fast einem Ångström, also etwa einem Zehnmillionstel Millimeter, was der Größenordnung von Atomradien entspricht. Die digitale Kamera- und Verarbeitungstechnik schafft bis zu 20.000 Einzelaufnahmen in 24 Stunden und kann in dieser Zeit bis zu fünf Proteinstrukturen aufklären.
Terminhinweis
Das Kryoelektronenmikroskop wird bei einem Symposium am 19. April offiziell eingeweiht.
Kurz nachgefragt: Was erhoffen Sie sich vom neuen Kryoelektronenmikroskop für Ihre Forschung?
Prof. Dr. Daniel Kümmel, AG Biochemie und Strukturbiologie (Fachbereich Chemie und Pharmazie):
Für meine Arbeitsgruppe stellen die neuen Kryoelektronenmikroskope eine großartige Bereicherung für unsere Forschung dar. Die Universität Münster verfügt damit über eine herausragende Infrastruktur für die Strukturbiologie. Darunter versteht man die strukturelle Untersuchung von Biomolekülen im atomaren Detail. Dies ist eine wichtige Erweiterung der Skala der biologischen Bildgebung hin zu höherer Auflösung. So können wir zellbiologische und biomedizinische Fragen auf molekularer Ebene untersuchen. Es geht uns darum zu verstehen, wie die Bestandteile von Zellen funktionieren und miteinander wechselwirken. Diese Erkenntnisse sind wichtig, um zu beleuchten, wie Fehlfunktionen zur Entstehung von Krankheiten führen können. Damit können wir nun in neue Bereiche vorstoßen. Der direkte Zugang zu dieser Schlüsseltechnologie in den Lebenswissenschaften wird einen entscheidenden Betrag für praktisch alle unsere Projekte liefern.
Privatdozentin Dr. Britta George, Forschergruppe Molekulare Nephrologie (Medizinische Fakultät und UKM):
Wir erhoffen uns von der Kyroelektronenmikroskopie, Strukturen am Nierenfilter auf molekularer Ebene bei gesunden Menschen und bei genetischen Erkrankungen darstellen zu können. Bei Gesunden ermöglicht der Nierenfilter die Ausscheidung toxischer Produkte und verhindert gleichzeitig den Verlust von Plasmaproteinen. Bei glomerulären Erkrankungen ist der Nierenfilter defekt, was zum Verlust von Proteinen in den Urin führt. Dies ist ein wichtiger Progressionsfaktor für glomeruläre Erkrankungen. Um zielgerichtete Therapien für glomeruläre Erkrankungen entwickeln zu können, ist es sehr wichtig, die molekularen Mechanismen am Nierenfilter zu verstehen. Zu diesem Verständnis können die neuen hochauflösenden Kryoelektronenmikroskopie-Techniken entscheidend beitragen.
Prof. Dr. Michael Hippler, AG Biochemie und Biotechnologie der Pflanzen (Fachbereich Biologie):
Die Entwicklung von Kryoelektronenmikroskopie zur hochauflösenden Strukturbestimmung von Proteinen kommt einer Revolution in der Strukturbiologie gleich. Zuvor mussten Proteine in kristallener Form vorliegen, um eine Struktur in atomarer Auflösung durch die Röntgenstrukturanalyse zu erzielen. Viele Proteinkomplexe, zum Beispiel solche in biologischen Membranen, konnten trotz vieler Mühen nie kristallisiert werden und entzogen sich damit einer Strukturaufklärung. Durch die Kryo-EM-Analyse lassen sich solche Proteinkomplexe in ihrer 3-D-Struktur in hoher Auflösung darstellen. Das hat viele spektakuläre Strukturen sichtbar gemacht. Aber die Kryo-EM kann noch mehr. Durch Kryo-EM-Analyse können auch dynamische Strukturänderungen in Proteinen aufgezeigt werden. Und in der Zukunft ist noch viel mehr zu erwarten, denn mit der Entwicklung von neuartigen Elektronenkameras und neuer Auswertesoftware, getrieben durch die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, stehen goldene Zeiten an.