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Münster (upm/jah).
Die Schauspielerin Iris Berben und der Schauspieler Thomas Thieme leihen fünf jüdischen Menschen in der Szenischen Lesung ihre Stimmen.<address>© Laurence Chaperon</address>
Die Schauspielerin Iris Berben und der Schauspieler Thomas Thieme leihen fünf jüdischen Menschen in der Szenischen Lesung ihre Stimmen.
© Laurence Chaperon

Von der Wissenschaft auf die Bühne

Über den Weg jüdischer Bittbriefe aus den geheimen Archiven des Vatikans in eine Aufführung in Berlin

Der prunkvolle Saal mit den Goldverzierungen ist hell erleuchtet, die Ränge mit den roten Samtsesseln sind bis auf den letzten Platz gefüllt. „Fünf Stellvertreter“ heißt die Szenische Lesung, die an diesem Donnerstag, 26. Januar, im Großen Haus des Theaters am Schiffbauerdamm in Berlin Premiere feierte. Im Zentrum des Stücks steht das Schicksal von fünf jüdischen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs den damaligen Papst Pius XII. in Briefen um Hilfe baten. 80 Jahre nach der Verfolgung leihen die Schauspieler Iris Berben und Thomas Thieme diesen Menschen ihre Stimmen. Bislang waren diese Briefe unbekannt, sie lagerten viele Jahre verschlossen in den vatikanischen Archiven. Erst das an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster angesiedelte Projekt „Asking the Pope for Help“ des Kirchenhistorikers Prof. Dr. Hubert Wolf und seines Teams rücken diese Briefe jetzt wieder in den Fokus der Öffentlichkeit.

Projektleiter Prof. Dr. Hubert Wolf (r.), Projektkoordinatorin Dr. Barbara Schüler (2.v.r.) und das Projektteam freuen sich mit WWU-Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels (3.v.r.) über eine gelungene Aufführung.<address>© Laurence Chaperon</address>
Projektleiter Prof. Dr. Hubert Wolf (r.), Projektkoordinatorin Dr. Barbara Schüler (2.v.r.) und das Projektteam freuen sich mit WWU-Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels (3.v.r.) über eine gelungene Aufführung.
© Laurence Chaperon
Begonnen hat alles bereits knapp drei Jahre zuvor, am 20. März 2020. Nach 15 Jahren der Vorbereitung konnten Hubert Wolf und sein Team die Akten zu Pius XII. im geheimen Archiv des Vatikans einsehen. Sie wollten eine Biographie über einen der umstrittensten Päpste der Kirchengeschichte schreiben und endlich die Frage nach seinem Schweigen zum Holocaust beantworten. Doch diesen Plan warfen sie bereits nach zwei Tagen in den Archiven über Bord. Denn was sie tatsächlich in den 400.000 Schachteln mit je 1.000 Blatt fanden, erschien ihnen ungleich wichtiger. „Bereits in den ersten Akten trafen wir immer wieder auf Briefe von Jüdinnen und Juden. Und auf Fotos, die Erschießungen zeigen, ausgemergelte Menschen kurz vor ihrem Tod: Der Vatikan wusste also von den Gräueltaten der Nazis, wusste von den Konzentrationslagern. Nachdem wir uns abends zusammengesetzt und unsere Funde in den Archiven besprochen hatten, war uns allen klar: Diese Briefe müssen ediert werden.“

Seitdem arbeiten die Forscherinnen und Forscher daran, den rund 15.000 jüdischen Menschen aus ganz Europa wieder eine Stimme zu geben. In ihren Schreiben schildern diese, teils sehr sachlich, aber auch teils sehr emotional, Gräuel, Verfolgung und Todesangst. Das Projektteam erfasst die Briefe und bereitet sie in einer digitalen Edition unter www.askingthepopeforhelp.de für die Öffentlichkeit auf. Damit allein gibt sich das Team aber nicht zufrieden „Wir wollen die Quellen außerdem im Sinne einer Anti-Antisemitismus-Bildung aufbereiten und Menschen aller Altersklassen für die unsagbaren Schrecken des Nationalsozialismus sensibilisieren“, betont Hubert Wolf. Gerade vor dem Hintergrund immer häufiger werdender antisemitischer Gewalttaten in Deutschland sei dies notwendiger denn je.

„Nachdem wir eine Seite mit Bittbriefen in der ZEIT publiziert hatten, meldete sich im Mai 2021 Mike Wündsch bei mir, mit der Frage, ob wir das Projekt nicht auf die Bühne bringen könnten“, schildert Wolf. Mike Wündsch hat als Vorstandsvorsitzender der Ilse Holzapfel-Stiftung, die der Dramatiker Rolf Hochhuth nach seiner Mutter benannt hat und der das Theater am Schiffbauerdamm gehört, das Potenzial des Projekts schnell erkannt. „Als ich von den Briefen hörte, war mir sofort klar, dass diese in einer Inszenierung auf die Bühne gebracht werden müssen“, betont er. Und es sollte gerade diese Bühne sein, denn Rolf Hochhuth war es, der mit seinem Schauspiel „Der Stellvertreter“ 1963 die Haltung des Papstes zum Holocaust thematisierte.

Mit Alexander Pfeuffer hatte Mike Wündsch schnell einen geeigneten Drehbuchautor gefunden. „Ich stand nicht nur vor der Herausforderung, das Unsagbare des Grauens der Shoah in Worte zu fassen, sondern auch das Historische unverfälscht in einen Bühnentext zu integrieren. Wie kann man eine solche Aufgabe schlechterdings bewältigen? Welche Anmaßung! Es ist unmöglich“, betont Alexander Pfeuffer. Er hat es trotzdem getan. „Ich bin zu Kinderzeiten streng katholisch erzogen worden, ausgerechnet in der bayerischen Kleinstadt Dachau. Kein Thema könnte mir näher liegen. Ich musste es tun. Ein Bild entwerfen, um den Opfern nachträglich eine Stimme zu verleihen – unabhängig von der Unmöglichkeit, dieser Aufgabe wirklich gerecht werden zu können.“

Es beginnt ein Prozess, der sich mehrere Monate hinzieht. Zunächst transkribierten und übersetzten die Forscher eine Auswahl an Bittschreiben, rekonstruierten das Schicksal ihrer Verfasserinnen und Verfasser anhand zahlreicher Quellen und Literatur und verfolgten die Vorgänge innerhalb des Vatikans minutiös. Auf dieser Basis verfasste Alexander Pfeuffer seine Lesung, die schließlich noch einmal mit dem Projektteam im Hinblick auf die historischen Fakten diskutiert wurde. „Gerade diese Auseinandersetzung gab mir während dieses schwierigen Prozesses Halt. Es war ein Geschenk, mit denjenigen sprechen zu dürfen, die diese im Nebel der Vergangenheit verschwindenden letzten Bruchstücke von trauriger Wirklichkeit zu Tage fördern“, resümiert Alexander Pfeuffer. Für Hubert Wolf und Dr. Barbara Schüler, die das Projekt koordiniert, war es nicht das erste Mal, eine dramaturgische Umsetzung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse zu begleiten. Beide sind sich einig: „Herr Pfeuffer hat sich auf das Prozesshafte unserer Projektarbeit eingelassen und unsere eigenen Überlegungen und zum Teil nicht leicht zu verdauenden Anmerkungen sportlich genommen. Dabei kam eine sehr berührend-bedrückende Lesung heraus.“

Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels (l.) und Prof. Dr. Hubert Wolf hatten beim anschließenden Empfang Gelegenheit, sich über die Fortschritte des Projekts auszutauschen.<address>© Laurence Chaperon</address>
Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels (l.) und Prof. Dr. Hubert Wolf hatten beim anschließenden Empfang Gelegenheit, sich über die Fortschritte des Projekts auszutauschen.
© Laurence Chaperon
Zurück zur Premiere. Nach den letzten Worten der Schauspieler kann man eine Stecknadel im Saal fallen hören. WWU-Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels, der extra nach Berlin gereist war, ist tief beeindruckt. „Die Briefe und diese Lesung zeigen, wie Erinnerungsarbeit gelingen kann“, sagt er. Auch Projektleiter Hubert Wolf ist zufrieden. Er hofft, dass Veranstaltungen wie diese dazu beitragen, die Erinnerung an die Shoah in einer besonderen Weise wachzuhalten. „Wenn dadurch unsere Resistenz gegen alle Versuchungen des aktuellen Antisemitismus gestärkt würde, wären wir einem Hauptziel unseres Projekts einen entscheidenden Schritt nähergekommen“, betont er.

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