Den kleinsten Teilchen auf der Spur
Sie sind unsichtbar und fliegen durch jede Materie hindurch, ohne Spuren zu hinterlassen: Neutrinos, auch „Geisterteilchen“ genannt. Sie sind die am häufigsten vorkommenden Materieteilchen im Universum; allein aus der Sonne erreichen die Erde 65 Milliarden Neutrinos pro Sekunde pro Quadratzentimeter. Von der Erforschung der Neutrinos erhoffen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Erkenntnisse zur Entstehung und Struktur unseres Universums. Als eine der wichtigsten Fragen der Teilchenphysik gilt die nach der Masse der Neutrinos. Genau das ist das Forschungsgebiet von Prof. Dr. Kathrin Valerius, WWU-Alumna und Leiterin der Abteilung Niederenergie-Universum am Institut für Astroteilchenphysik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Sie arbeitet an einem Großexperiment mit, das abgekürzt fast so heißt wie sie: KATRIN, das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment.
„Neutrinos sind so klein und leichtgewichtig, dass sie sogar für Elementarteilchenphysiker schwer vorstellbar sind“, erläutert die Physikerin. „Das Standardmodell der Teilchenphysik spricht ihnen gar keine Masse zu. Heute wissen wir, dass das Modell in diesem Punkt unvollständig ist. Um die Masse zu bestimmen, führt KATRIN dafür die weltweite Expertise und die beste Technologie zu diesem Thema zusammen. Das Experiment ist eine internationale Kollaboration, an der mehr als 20 Forschungseinrichtungen beteiligt sind.“
Da die Teilchen kaum eine Wechselwirkung mit anderer Materie haben, müssen die Forscherinnen und Forscher ihnen indirekt auf die Spur kommen. Dafür haben sie mit KATRIN die genaueste Waage der Welt entwickelt, mit dem Hauptspektrometer als Herzstück. Es ist zehn Meter hoch und 24 Meter lang und beinhaltet einen Ultrahochvakuumtank.
„Bei der Bestimmung der Masse machen wir uns den Energieerhaltungssatz und Einsteins berühmte Gleichung E = mc² zunutze“, erläutert Kathrin Valerius. Darin steht E für die Energie und m für die Masse. Um letztere zu berechnen, wird die Energie gemessen – und zwar nicht die des Neutrinos, sondern seines Partnerteilchens, eines Elektrons.
Dafür wird der radioaktive Zerfall des „superschweren Wasserstoffs“ Tritium betrachtet. Dabei entstehen unter anderem ein Elektron und ein Neutrino, und es wird jedes Mal exakt dieselbe Menge an Energie frei, verteilt auf das Elektron und das Neutrino. Das Hauptspektrometer ist so konstruiert, dass nur die höchstenergetischen Elektronen es passieren. Ihre Energie wird gemessen und durch den Vergleich des gemessenen Spektrums mit der theoretischen Erwartung wird nach dem „Fingerabdruck“ der Neutrinomasse gesucht. Auf ähnliche Weise wurden immer wieder neue Obergrenzen für die Masse der Neutrinos ermittelt. Durch die neuesten Erkenntnisse von KATRIN weiß man, dass ein Neutrino mindestens 640.000-mal leichter ist als ein Elektron.
Die Erforschung von subatomaren Teilchen einerseits und des Kosmos als Ganzen andererseits haben Kathrin Valerius schon als Schülerin fasziniert. „Mein Ziel war es, später einmal am Radioteleskop in Effelsberg in der Eifel zu forschen – oder Wissenschaftsjournalistin zu werden“, berichtet sie. Die Entscheidung für ein Physikstudium traf sie jedoch erst relativ spät, obwohl sie sich dank einer engagierten Physiklehrerin schon in der Mittelstufe für Physik interessierte und am Wettbewerb „Jugend forscht“ teilnahm.
In der Oberstufe wählte sie dennoch sprachliche Leistungsfächer und spielte mit dem Gedanken, Fremdsprachen zu studieren. Ihr damaliger Physiklehrer ermutigte sie jedoch, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen, und überließ ihr sogar seine eigenen Studienunterlagen.
Im Physikstudium an der Universität Bonn war sie eine von wenigen Frauen im Jahrgang. „Das war etwas Besonderes, und unsere Lerngruppe aus mehreren Studentinnen war ein wichtiger Rückhalt“, berichtet sie. Ihre Diplomarbeit brachte sie in Kontakt mit KATRIN. In ihrer Dissertation baute sie ihre Forschung zu dem Thema weiter aus. 2005 wechselte sie mit ihrem Doktorvater Prof. Dr. Christian Weinheimer an die WWU Münster, wo sie bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in dessen Arbeitsgruppe am Institut für Kernphysik war. Für ihre Dissertation erhielt sie die Bestnote „summa cum laude“.
Von 2009 bis 2014 forschte sie als Postdoktorandin am Erlangen Centre for Astroparticle Physics der Universität Erlangen-Nürnberg und als Gastwissenschaftlerin am Laboratoire Astroparticule et Cosmologie in Paris. Im Jahr 2014 wechselte sie ans Karlsruher Institut für Technologie und wurde Leiterin einer unabhängigen Helmholtz-Hochschul-Nachwuchsgruppe. 2019 wurde sie vom Wirtschaftsmagazin „Capital“ unter die „Junge Elite – die Top 40 unter 40“ in der Kategorie „Wissenschaft und Gesellschaft“ gewählt. 2020 trat sie ihre Professur an und erweiterte ihr Forschungsspektrum in Richtung der Suche nach dunkler Materie. Seit Oktober 2022 ist sie eine von zwei Sprecherinnen des KATRIN-Experiments und löste damit unter anderem ihren Doktorvater ab, der die Sprecherschaft über 20 Jahre lang innehatte.
Kathrin Valerius teilt gerne ihre Begeisterung für ihren Forschungsbereich, Wissenschaftskommunikation ist ihr wichtig. „Die Forschung wird öffentlich finanziert, darum muss sie auch öffentlich vermittelt werden“, betont sie. „Wir merken, dass das Interesse des Publikums an Grundlagenforschung groß ist.“ Einblicke in das Forschungsfeld geben sie und ihre Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel mit öffentlichen Vorlesungen und Laborführungen – vor Ort oder per Augmented-Reality-App. Sie sind auf „teilchenwelt.de“ aktiv, einer Plattform, die sich an Lehrkräfte und Jugendliche richtet. Das findet Kathrin Valerius besonders wichtig für die Studienmotivation. „Diese aktuellen Forschungsthemen gehören später zu den Studieninhalten.“ Besonders Mädchen möchte sie für ein Physikstudium begeistern. „In den Köpfen spuken noch viele Vorurteile herum, und viele Mädchen denken ‚Das ist nichts für mich!‘“, bedauert die Physikerin. „Dabei sehen wir, dass Frauen ihr Physikstudium seltener abbrechen als Männer. Zum Glück sind Diversität und Chancengerechtigkeit heute stark im Fokus, und es gibt Rollenvorbilder.“ Solche Rollenvorbilder haben sie selbst in ihrer Laufbahn bestärkt, auch an der WWU.
An ihre Zeit in Münster denkt sie gerne zurück. Besonders präsent sind ihr einige akustische Eindrücke der Skulptur-Projekte. „Im Institut haben wir immer die Skater gehört, die in der umgekehrten Pyramide ‚Square Depression‘ unterwegs waren“, erzählt sie. „Und ich erinnere mich gut an die Klanginstallation ‚The Lost Reflection‘ unter der Torminbrücke, die lag auf meiner Joggingstrecke. Den Ton habe ich bis heute im Ohr.“
Autorin: Nora Kluck
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 21. Dezember 2022.