Tradition trifft Moderne
Wer sich zum ersten Mal mit dem Zentrum für Islamische Theologie beschäftigt, dem fallen die zahlreichen Schnittstellen zu und der Dialog mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ins Auge: Pädagogik, Geschichte, Recht, Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft, die christlichen und jüdischen Theologien – um nur einige zu nennen. Im Mittelpunkt des bekenntnisorientierten Fachs steht eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Aspekten des Glaubens. Grundlage und Leitlinie vieler Forschungsprojekte ist die von Prof. Dr. Mouhanad Khorchide beschriebene „Theologie der Barmherzigkeit“, die nicht nur in einem ersten Schritt den Koran historisch einordnet und nach Spuren der Barmherzigkeit in diesem sucht, sondern in einem zweiten Schritt diese Spuren in den heutigen Kontext setzt.
Im gleichnamigen Koranprojekt am ZIT arbeitet ein Forschungsteam unter der Leitung von Mouhanad Khorchide am ersten historisch-theologischen Korankommentar unter Berücksichtigung von Aneignungs-, Transformations- und Abgrenzungsprozessen zwischen Islam und der jüdisch-christlichen Tradition. Ziel ist es, unterschiedliche Themenkomplexe des Korans inhaltlich im Licht der Theologie der Barmherzigkeit zu analysieren und zu kommentieren. Die Herangehensweise, ihn zwar weiterhin als Gotteswort, gleichzeitig aber auch als historisch gewordenen Text zu verstehen, gilt als neu. Die Initiatoren sehen in diesem Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne keinen Widerspruch. „Die Verortung von Koranversen in ihren historischen Kontext ist seit jeher eine bekannte Praxis in der islamischen Theologie,“ unterstreicht Prof. Dr. Dina El Omari, die für den Band zum Thema „Frauen im Koran“ verantwortlich ist. „Neu ist jedoch, den Text mittels eines hermeneutischen Schlüssels der Barmherzigkeit zu lesen sowie der enge Austausch mit anderen religiösen Traditionen. Außerdem soll an die exegetische Tradition angeknüpft werden, indem ausgewählte Exegeten in ihrem jeweiligen historischen Kontext betrachtet und die Inhalte ihrer Auslegungen fruchtbar gemacht werden, die ein zeitgemäßes Verständnis des Korans unterstützen.“ Das Textkorpus besteht demnach aus Koranversen und den jeweiligen überlieferten Aussagen dazu. Das Projekt nimmt vor allem die vormodernen islamischen Gelehrten at-Tabari, az-Zamakhshari, ar-Razi, al-Qurtubi und Ibn Kathir in den Blick. Deren exegetische Schriften stammen aus einem Zeitraum zwischen dem 9. und dem ausgehenden 15. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung.
Der Kommentar umfasst neben einem deskriptiven auch einen normativen Teil. Beide sind eng miteinander verzahnt. „Wir setzen sowohl die Verse als auch die Aussagen der Exegeten in ihren historischen Kontext“, erläutert Dina El Omari. Daraufhin erfolgt die Analyse der Koranverse. „Daraus leiten wir ihre Bedeutung für uns heute und für ein zeitgemäßes Verständnis des Korans ab.“ Der erste auf diese Weise entstandene Band des Korankommentars in deutscher Sprache ist bereits 2018 im Verlag Herder erschienen.
Die Forschung am ZIT stellt sich weiteren drängenden Fragen der Gegenwart. So versammelt zum Beispiel Prof. Dr. Milad Karimi als Herausgeber des aktuellen Jahrbuchs für islamische Religionsphilosophie eine Reihe von Beiträgen zum Umweltschutz aus Sicht des Islam. Zu den Forschungsschwerpunkten von Juniorprofessorin Dr. Asmaa El Maaroufi zählen Bioethik, Tier- und Umweltethik. Prof. Dr. Cefli Ademi lehrt islamische Normenlehre und ihre Methodologie. Dina El Omari setzt sich mit Fragen rund um Gender und Islam auseinander. Dass am ZIT Imame und Religionslehrer sowie Sozialarbeiter ausgebildet werden, spiegelt sich ebenfalls in den Forschungsthemen wider. Die religionsdidaktischen Forschungen aus dem ZIT begleiten somit einen gesellschaftlichen Prozess, der noch in vollem Gange ist – den Weg zu einem islamischen Religionsunterricht.
Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 12. Oktober 2022