Gefiedertes Straßennetz
Über mehrere Etagen im Gebäude der Geowissenschaften (kurz GEO 1) an der Heisenbergstraße können Studierende, Mitarbeiter und Gäste des Fachbereichs dieses Kunstwerk bestaunen: Im lichtdurchfluteten Atrium – ein großer rechteckiger Innenraum in der Mitte des Gebäudes – befindet sich eine zweiteilige Wandzeichnung eines Schnepfenvogels. Unter dem Titel „Bewohnen – Zeittiere und 910 Einwohner je km²“ zeichnete die Künstlerin Nicole Schuck 2012 eine übergroße Bekassine mit Grafitstift auf den weißen Wandanstrich. Die Vogelart war ursprünglich im Münsterland weitverbreitet, ist heute aber aufgrund zivilisatorischer Einflüsse vom Aussterben bedroht.
Die offene Grundrissgestaltung des 2013 fertiggestellten kubischen Neubaus ermöglicht vielfältige Blickbeziehungen auf den Schnepfenvogel. So lohnt es sich, das Kunstwerk von den unterschiedlichen Etagen aus zu betrachten: Im unteren Bereich der Wand ist auf acht mal sechs Metern der Körper des Vogels zu sehen, in der oberen rechten Ecke der auf zwei mal zwei Meter vergrößerte Kopf. Die von Hand aufgebrachten Grafitstriche bilden feinste Details ab, die Haptik des Gefieders scheint fast sinnlich wahrnehmbar für die Betrachter zu sein.
Nicole Schuck wurde im Rahmen des „Kunst am Bau“-Programms des Landes Nordrhein-Westfalen ausgewählt. Im Vorfeld ihrer Arbeit traf sie sich unter anderem mit Biologen, Ökologen und Ornithologen und erhielt entscheidende Impulse für ihre Zeichnung. In Nordrhein-Westfalen kommt die Bekassine – aufgrund ihrer Meckerlaute auch „Himmelsziege“ genannt – als seltener Brutvogel nur noch im Westfälischen Tiefland sowie im Münsterland vor. Der Brutbestand ist seit den 1970er-Jahren trotz umfangreicher Schutzmaßnahmen stark rückläufig. Das Kunstwerk erinnert an diese Zerbrechlichkeit der Natur.
Den Kopf und Teile des Gefieders des etwa taubengroßen Vogels mit dem kugeligen Bauch und dem beige-braunen Federkleid stellt die Künstlerin fragmentarisch und überdimensioniert dar. Dadurch entsteht eine Konzentration auf Oberfläche, Muster und Haptik des Gefieders. Natur, Tier und menschliche Lebensräume sind die zentralen Aspekte der künstlerischen Auseinandersetzung von Nicole Schuck. Diese, miteinander kombiniert und überlagert, imaginieren neue Lebensräume für Mensch und Tier. So kann der Betrachter des Kunstwerks bei genauer Beobachtung im Federkleid des Vogels die Hauptverkehrsstraßen der Stadt Münster erkennen.
Die Zeichnung gehört zu den neueren Kunstwerken an der Universität und unterscheidet sich in mancher Hinsicht von anderen. „Gerade bei Wissenschaftsbauten hat es Kunst am Bau schwer, denn sie soll auf die Architektur reagieren und zugleich den Berufsalltag der Nutzerinnen und Nutzer widerspiegeln. Nicole Schuck gelingt dies auf subtile Weise, denn sie verdichtet in ihrer Arbeit nicht nur äußerlich Fragen von Urbanität und Landschaftsökologie“, betont Dr. Eckhard Kluth, Kustos der WWU. „Ihre Zeichnung gestaltet die Wand mit großer Selbstverständlichkeit. Zugleich ist die Grafitzeichnung so fragil wie die Welt, die sie thematisiert: Es genügt ein unbedachter Handstreich, um sie zu zerstören.“
Das siebengeschossige Gebäude umfasst einen Hörsaal, mehrere Seminarräume, Büros, Labore und eine Bibliothek. Es zeichnet sich besonders durch Energieeffizienz und Ressourcenschonung aus und gilt als vorbildlich in den Bereichen Klimaschutz und Nachhaltigkeit – Themen, die auch im Werk von Nicole Schuck eine entscheidende Rolle spielen. Die gebürtige Herforderin stellt durch ihre Zeichentechnik und das Vogelmotiv einen intensiven Dialog zwischen Kunst und Architektur sowie zwischen Natur und gebautem Raum her. Das Kunstwerk thematisiert die oft schwierige Beziehung zwischen Natur und Mensch, Landschaft und Stadt – und greift damit Fragen auf, die auch Gegenstand von Forschung und Lehre der Geowissenschaften sind.
Autorin: Kathrin Kottke
Kunst an der WWU
Die WWU verfügt über einen stetig wachsenden Bestand an Kunstwerken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Werke als Teil des Programms „Kunst am Bau“ und zur Erstausstattung angekauft. Regionale Künstler stehen dabei gleichberechtigt neben Künstlern von nationalem und internationalem Rang. Hinzu kommen zahlreiche Schenkungen aus allen Gattungen. Wir stellen Ihnen in den kommenden Monaten einige Kunstwerke in einer neuen Serie vor.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 12. Oktober 2022
Links zu dieser Meldung
- Die Oktober-Ausgabe der Unizeitung als PDF
- Alle Ausgaben der Unizeitung auf einen Blick
- Kunst an der WWU (1): Eine Frage der Perspektive. "Duale Objekte" von Ernst Helmstädter im Schloss
- Kunst an der WWU (2): In geschwungener Reihe. "Fünf Kinder" von Hilde Schürk-Frisch vor dem Zentralklinikum
- Kunst an der WWU (3): Der heimliche Patron. Büste des WWU-Gründers Franz von Fürstenberg vor dem Kanzlerbüro im Schloss
- Kunst an der WWU (4): Von entspannter Leichtigkeit. Seit 1997 steht die Plastik "Ringrotsiebzehngrad" vor dem Institut für Lebensmittelchemie
- Kunst an der WWU (5): Babak Saeds Kunstwerk GEHORCHE KEINEM an der ULB-Fassade
- Kunst an der WWU (6): "Die Wiese lacht oder das Gesicht in der Wand" von Harald Klingelhöller am Juridicum