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Münster (upm/kn)
WWU-Experten ordnen in Gastbeiträgen die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine ein.<address>© stock.adobe.com - Negro Elkha</address>
© stock.adobe.com - Negro Elkha

WWU-Experten ordnen Krieg in der Ukraine ein

Vier Gastbeiträge zu den Ereignissen in Russlands Nachbarland

Russland hat die Ukraine angegriffen und überfallen. Große Teile der Welt reagieren mit Bestürzung, verurteilen den Überfall und verhängen drastische Sanktionen gegen die Regierung in Moskau. Schätzungen zufolge sind mehr als drei Millionen Menschen auf der Flucht. Prof. Dr. Ricarda Vulpius und Dr. Vitalij Fastovskij aus der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der WWU, Prof. Dr. Thomas Apolte, Lehrstuhlinhaber für Ökonomische Politikanalyse, Prof. Dr. Doris Fuchs, Lehrstuhlinhaberin für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung, und Prof. Dr. Nexhmedin Morina, Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie, ordnen in Gastbeiträgen aus ihrer Expertensicht die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine ein.

„Angriffskrieg auf ein militärisch schwächeres Land ist ein Novum in der europäischen Nachkriegsgeschichte“

Prof. Dr. Ricarda Vulpius<address>© WWU - Lukas Walbaum</address>
Prof. Dr. Ricarda Vulpius
© WWU - Lukas Walbaum
Dieser groß angelegte Territorialkrieg mitten in Europa stellt eine Zeitenwende dar. Der europäische Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete zwar kein Ende kriegerischer Auseinandersetzungen, wie die Kriege in Jugoslawien demonstrierten. Doch der Angriffskrieg einer europäischen Nuklearmacht auf ein territorial kleineres und militärisch schwächeres Land, ohne selbst bedroht zu werden, ist ein Novum in der europäischen Nachkriegsgeschichte.

Sollte die Russische Föderation den militärischen Sieg über die Ukraine erlangen, so wird sie das Land als souveräne politische Einheit auflösen, die Verfassung ändern, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU) kündigen, die Ukraine der Eurasischen Zollunion und zusammen mit der Belarus einer wiedererstehenden „allrussischen“ Union in der Tradition des imperialen Nationalismus zuzuführen versuchen. Die ukrainische Bevölkerung wird in diesem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit in einen Guerillakrieg eintreten. Dabei werden die Akteure auf den Partisanenkampf während der nationalsozialistischen und anschließenden sowjetischen Herrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts rekurrieren, der besonders in Galizien bis heute ein wichtiger Erinnerungsort ist.

Angesichts des Kampfwillens, den die ukrainische Armee und Bevölkerung zeigt, der politischen Geschlossenheit sämtlicher Regionen und Gebiete der Ukraine und der westlichen Unterstützung für die Verteidigung des Landes ist es aber genauso möglich, dass der russische Präsident Wladimir Putin mit seinen militärischen Großzielen scheitert. Denkbar wäre dann ein Szenario, das zur ukrainischen Anerkennung der Krim-Annexion und zur Aufgabe des Donbass führt, zugleich aber der Ukraine die politische Unabhängigkeit sichert und ihr mittelfristig einen Beitritt zur EU ermöglicht. Ein Sieg der Ukraine ohne Gebietsverluste wäre nur im Falle innenpolitischer Erschütterungen in Russland infolge der westlichen Sanktionspolitik und eines anschließenden Truppenabzugs möglich.

In allen drei Szenarien wird das Gegenteil dessen eintreten, was Wladimir Putin mit seinem Krieg bezweckte: Eine innere Annäherung der Ukrainer an Russland ist nach diesem Krieg mindestens für die nächsten 50 Jahre undenkbar geworden; eine dauerhafte gewaltsame russische Besatzung über ein so großes Land ist nicht möglich. Die Ukraine wird nicht zerfallen, weil sie politisch durch den Krieg so geeint wurde wie nie zuvor. Schließlich wird der Annäherungsprozess der Ukraine an den Westen eine ungekannte Dynamik gewinnen.

Russland wird insbesondere in den beiden ersten Szenarien wirtschaftlich stark geschwächt, politisch auf lange Zeit vom Westen isoliert werden und sich noch stärker als bisher China zuwenden. Sollten die westlichen Sanktionen zur Spaltung der Eliten und zu politischen Umstürzen respektive Militärputschen führen, so wird der Revanchismus wohl auch nach dem Ende des Putin-Regimes ein wichtiger politischer Mobilisierungsdiskurs bleiben. Getrieben durch das Gefühl einer weiteren Kränkung könnte das Land weiterhin eine große militärische Gefahr für seine Nachbarn darstellen.

Ricarda Vulpius ist Professorin für Osteuropäische und Ostmitteleuropäische Geschichte an der WWU, Vitalij Fastovskij ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der WWU.

 

„Russland würde ohne den Verkauf von Rohstoffen einen finanziellen Kollaps erleiden“

Prof. Dr. Thomas Apolte<address>© WWU - Laura Schenk</address>
Prof. Dr. Thomas Apolte
© WWU - Laura Schenk
Über die ökonomischen Folgen des Krieges in der Ukraine kann man sich grob drei mögliche Szenarien vorstellen: Das erste Szenario ist ein Übergreifen des Krieges auf die NATO-Staaten Westeuropas. Dies ist zwar unwahrscheinlich, aber wenn es doch dazu kommen sollte, wären nicht nur die politischen und menschlichen, sondern auch die ökonomischen Folgen nicht mehr zu prognostizieren.

Das zweite Szenario ist eine militärisch erfolgreiche Besetzung der Ukraine durch Russland, verbunden mit der Entmachtung der derzeitigen ukrainischen Regierung. In diesem Szenario wird es eine lang anhaltende Konfliktlage in Verbindung mit einer ökonomischen Isolation Russlands in Europa und der Welt geben. Die Folgen wären neben der ukrainischen vor allem auch für die russische Seite verheerend, denn Russland ist technologisch und finanziell vom Westen abhängig. Umgekehrt ist Russland als Exportmarkt für die westeuropäischen Länder allerdings nur von geringer Bedeutung. So gehen lediglich 1,9 Prozent der deutschen Exporte nach Russland. Allein die Exporte in die Schweiz sind mit 4,4 Prozent mehr als zweimal so hoch. Richtig ist, dass Deutschland in hohem Maße Rohstoffe aus Russland bezieht. Aber gerade im Gasbereich sind wir Teil des eng vernetzten europäischen Binnenmarktes, sodass ein großer Teil der oft zitierten 50 Prozent der deutschen Gasimporte ausgeglichen werden kann. Hinzu kommt, dass Russland ohne den Verkauf von Rohstoffen einen finanziellen Kollaps erleiden würde, weshalb es ohnehin unwahrscheinlich ist, dass es seine Lieferungen an Westeuropa einstellen wird. Daher werden die ökonomischen Folgen dieses Szenarios für Westeuropa zwar spürbar sein, aber erträglich bleiben.

Für Russland gilt dies nicht. Deshalb ist ein drittes Szenario denkbar, in dem das derzeitige Machtsystem unter Russlands Präsidenten Wladimir Putin kollabiert. Weil die Machtstrukturen von Diktaturen komplex und in ihrer Stabilität unvorhersehbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios nicht seriös einzuschätzen. Sollte es tatsächlich dazu kommen und sollte dies zu einer baldigen Befriedung in der Ukraine führen, so könnten die Sanktionen Zug um Zug zurückgenommen werden. Unabhängig davon, ob dieses Szenario einen neuen Anlauf für eine europäische Friedensordnung erlauben würde, weist es aus politischer wie aus ökonomischer Sicht aber fast mit Sicherheit in die Richtung der günstigsten denkmöglichen Entwicklung. Dies gilt nicht zuletzt, weil es neben der ukrainischen vor allem auch die russische Bevölkerung vor weiteren desaströsen Folgen bewahren könnte.

Thomas Apolte ist Lehrstuhlinhaber für Ökonomische Politikanalyse an der WWU.

 

„Invasion Russlands bedeutet riesigen Einschnitt in der Weltpolitik“

Prof. Dr. Doris Fuchs<address>© WWU - Peter Sauer</address>
Prof. Dr. Doris Fuchs
© WWU - Peter Sauer
Die Invasion Russlands in der Ukraine bedeutet einen riesigen Einschnitt in der Weltpolitik. Sie geht mit großen Sorgen über die Zukunft nicht nur der Ukraine, sondern Osteuropas generell und den Frieden in der Welt einher. Weniger überraschend geht die Veröffentlichung des neuen Berichts des Weltklimarats am 28. Februar neben diesen sicherheitspolitischen Verwerfungen medial fast unter. Wer hat jetzt schon Zeit und Nerven, sich mit dem Klimawandel zu beschäftigen? Politische Sanktionen und Strategien, aber auch das Leid der Ukrainerinnen sowie Ukrainer und die Frage, was zu ihrer Unterstützung getan werden kann, nehmen die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft in Anspruch. Jedoch verschwindet die Klimakrise nicht durch den Krieg in Osteuropa, genauso wie sie nicht durch die Coronapandemie verschwunden ist, und tatsächlich gibt es auch Verbindungen zwischen dem aktuellen Krieg und der langfristigen Klimakrise.

Es greift zu kurz, allein auf erneuerbare Energiequellen zur Reduzierung der Abhängigkeit von Russland zu setzen. Auch die neuen Technologien sind von bestimmten Rohstoffen abhängig, zum Beispiel den sogenannten seltenen Erden, die Deutschland ebenso importieren muss. Entsprechend ist die beste Strategie zur Reduzierung der deutschen Abhängigkeit von Russland beziehungsweise autoritären Staaten generell und zur Bekämpfung des Klimawandels letzten Endes die gleiche: Verbraucht weniger Energie! Wenn wir das Auto stehen lassen, die Heizung etwas runterstellen und unsere Einkäufe auf das beschränken, was wir wirklich brauchen, leisten wir den wirkungsvollsten Beitrag. Damit können wir klare Zeichen der Solidarität setzen und der Politik Handlungsspielräume eröffnen.

Doris Fuchs ist Lehrstuhlinhaberin für internationale Beziehungen und nachhaltige Entwicklung sowie Sprecherin des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der WWU.

 

„Kriege hinterlassen tiefgehende physische und psychologische Wunden“

Prof. Dr. Nexhmedin Morina<address>© privat</address>
Prof. Dr. Nexhmedin Morina
© privat
In einem Krieg werden die physische und psychologische Integrität von Individuen zutiefst verletzt. Die meisten Kriegsüberlebenden durchleiden eine Vielzahl an traumatischen Erfahrungen, die mit Todesangst einhergehen, wie etwa Beschießungen, körperliche Verletzungen, Hunger oder sexuelle Gewalt. Zudem haben sie die Verletzung und Tötung von Verwandten, Freunden und anderen Menschen miterleben müssen. All dies geschieht gerade in der Ukraine und geht einher mit der massiven Zerstörung von Eigentum, öffentlichen Räumen und Infrastruktur. Kriege hinterlassen sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene tiefgehende physische und psychologische Wunden. Die Überlebenden müssen nicht nur die eigenen Wunden und den Verlust von Familienangehörigen und/oder Freunden bewältigen, sondern auch mit dem verlorenen Vertrauen in die soziale Stabilität und solidarische Grundstruktur der Gesellschaft zurechtkommen. Ferner werden sie auch nach Kriegsende mit vielen Herausforderungen in der Nachkriegsgesellschaft oder als Geflüchtete in einer neuen Heimat konfrontiert, wie etwa Perspektiv- und Arbeitslosigkeit oder Armut.

Aus Studien mit Kriegsüberlebenden weltweit wissen wir, dass viele Kriegsüberlebende auch Jahre nach einem Krieg an psychischen Störungen leiden, die mit signifikanten Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben einhergehen. So ergab eine kürzlich von uns publizierte Zusammenfassung vorhandener Studien zu psychischen Störungen bei Kriegsüberlebenden, dass weltweit etwa 25 Prozent der erwachsenen Kriegsüberlebenden unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und genauso viele unter einer Depression leiden. Dabei leidet die Hälfte der von Depressionen betroffenen Menschen auch unter PTBS. Die Werte liegen im Vergleich dazu bei der erwachsenen Bevölkerung in der Europäischen Union ohne unmittelbare Kriegserfahrung bei zwei beziehungsweise sieben Prozent. Die erlebte Gewalt, die materiellen Zerstörungen, die massive Erosion des sozialen Zusammenhalts und des individuellen Gesellschaftsvertrauens sowie die daraus folgenden psychischen Beschwerden erschweren eine baldige individuelle und gesellschaftliche Heilung. Allerdings verfügen wir inzwischen über bewährte Konzepte, um Menschen in beziehungsweise aus (ehemaligen) Kriegsgebieten helfen zu können.

Nexhmedin Morina leitet die Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie an der WWU.

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