Wie Utopien die Gesellschaft verändern
Eine Welt ohne Armut, Hunger oder Krieg – diese Vorstellungen halten wohl die meisten Menschen für utopisch. Und das sind sie auch. Für Dr. Björn Wendt liefern die Zukunftsträume, die etwas am aktuellen Zustand kritisieren und gleichzeitig das positive Bild einer Welt ohne diese Missstände vermitteln, allerdings wichtige Hinweise auf Entwicklungen in unserer Gesellschaft. Am Institut für Soziologie der Universität Münster erforscht er, welche Funktion Utopien in der heutigen Gesellschaft haben, wie sie entstehen und wie sie zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.
„Utopien helfen uns dabei, den natürlich erscheinenden Lauf der Dinge zu durchbrechen“, erklärt der Soziologe. „Statt gesellschaftliche Zustände als unveränderlich zu akzeptieren, zeigen sie uns, was denkbar und möglich ist.“ Beispiele dafür gebe es in der Geschichte viele: Das Frauenwahlrecht schien noch Anfang des 20. Jahrhunderts unrealistisch. Auch von gemeinsamen Schulen für schwarze und weiße Amerikaner und Amerikanerinnen war man in Zeiten der sogenannten „Rassentrennung“ in den USA meilenweit entfernt. Martin Luther King nutzte damals die Kraft von Utopien in seiner Rede über den Traum einer Welt ohne Rassismus und trug so maßgeblich dazu bei, diskriminierende Gesetze aufzuheben.
Heutzutage behaupteten sowohl einige Medien als auch Wissenschaftler, dass es nur noch wenige utopische Vorstellungen in unserem Alltag gebe, erläutert Björn Wendt. Er ist allerdings anderer Meinung. „Auch heute gibt es in unserer Gesellschaft zahlreiche Utopien. Viele Menschen träumen etwa von einer nachhaltigen Welt und versuchen diese durch Konsumverzicht oder politisches Engagement zu realisieren“, berichtet der Wissenschaftler. Es fänden sich sogar ganze Öko-Dörfer zusammen, die das zukünftig Wünschenswerte bereits in der Gegenwart vorleben möchten. Und letztlich zeigten sich auch in der Klimabewegung „Fridays for Future“ Vorstellungen eines guten Lebens.
Welche Utopien tatsächlich zu großen sozialen Bewegungen werden, hängt dabei maßgeblich davon ab, ob sie die drängenden Probleme einer Gesellschaft thematisieren und attraktive Alternativen zu den bestehenden Missständen aufzeigen. „Verschiedene Utopien ringen um Vorherrschaft. Die Utopie einer nachhaltigen Gesellschaft ist beispielsweise so anschlussfähig, da der Klimawandel viele Menschen betrifft und von der Politik, der Wissenschaft und der Wirtschaft als erstrebenswertes Ziel thematisiert wird“, betont Björn Wendt.
Doch des einen Utopie, kann auch des anderen Dystopie sein. „Die radikalen Änderungen unserer Lebensweise, wie sie etwa von der Bewegung ,Fridays für Future' gefordert wird, ruft auch Widerstand hervor. Klimawandel-Skeptiker bemühen dann gern die Vorstellung der ‚Ökodiktatur‘ als negatives Zukunftsszenario“, erläutert der Experte. Trotz dieser Widerstände spielten Utopien eine wichtige Rolle für gesellschaftliche Veränderungen: „Sie geben einer Gesellschaft Orientierung darüber, was sie vernünftigerweise nicht mehr sein sollte und zukünftig werden kann.“
Autorin: Jana Haack
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 11. November 2020.