Im Forum Europa wird das genuin europäische Profil des Sonderforschungsbereichs geschärft, reflektiert und international kontextualisiert. Im angelsächsischen Sprachraum fungiert Law and Literature als Name für eine "Bewegung". Für die kontinentaleuropäische Forschung zum Thema "Recht und Literatur" kann von einer solchen Vorstellung nicht die Rede sein. Selbst gesicherte Forschungsergebnisse, die aus Diskussionen innerhalb des angelsächsischen Rechtskreises resultieren, sind oftmals nicht oder nur bedingt auf die kontinentaleuropäischen Rechtskreise übertragbar. Doch nicht nur von den Unterschieden im Rechtsverständnis und den damit einhergehenden Unterschieden in der Rechtspraxis geht eine 'Sperrwirkung' aus; auch die US-amerikanische Literaturwissenschaft hat ein ihr eigenes Verhältnis zur kontinentaleuropäischen Forschung, das sich weniger durch Distanz als durch eine charakteristische Assimilation auszeichnet, die den meisten europäischen Literaturwissenschaftler*innen fremd ist.
Die Stärkung der Recht-und-Literatur-Forschung im Hinblick auf die Eigenheiten des kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens ist ein wichtiges Desiderat – nicht zuletzt deshalb, weil sich gegenwärtig unter dem Druck der sehr pauschal als "Globalisierung" bezeichneten Internationalisierungstendenzen sowohl weltweit als auch innerhalb des europäischen Rechtskreises – genauer: der unterschiedlichen europäischen Rechtskreise – eine zunehmende Annäherung von europäischer und anglo-amerikanischer Rechtskultur beobachten lässt. Nur eine Forschung, die bewusst vergleichend und systemübergreifend arbeitet, kann diesen Wandel des (Selbst-)Verständnisses von Recht angemessen reflektieren. Durch die Analyse unterschiedlicher Rechtsauffassungen in der und im Hinblick auf die Literatur – in deren Alterität gegenüber dem Recht, in deren Vergleichbarkeit als tertium, in deren Funktion als Konstituens – ist die Ergänzung und Verallgemeinerung der Law-and-Literature-Forschung durch die Einbeziehung einer europäischen Perspektive besonders vielversprechend.
Es gilt also, Spezifika kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens stärker in die Diskussion einzubringen und im europäischen Kontext unter Einbeziehung Großbritanniens zu verorten. Dabei eröffnen sich auch Anknüpfungspunkte an ältere Forschungsarbeiten zum Verhältnis von Recht und Literatur, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert unter anderem in deutscher Sprache vorgelegt wurden und im Kontext des Law-and-Literature-Movement bisher kaum Beachtung gefunden haben. So lassen sich zwei Ebenen unterscheiden, auf denen der SFB das Verhältnis von Recht-und-Literatur-Forschung zum Law-and-Literature-Movement näher untersucht, nämlich erstens auf einer inhaltlich-rechtlichen Ebene, auf welcher die heute dominanten europäischen Rechtsordnungen (Öffentliches und privates Recht französischer, deutscher und skandinavischer Prägung sowie das Common Law) sowie die Einflüsse, die in Vergangenheit und Gegenwart auf die Rechtsordnung eingewirkt haben und einwirken (Naturrecht, Kirchenrecht, islamisches wie jüdisches religiöses Recht, Sowjetrecht etc.), untersucht werden; und zweitens auf einer wissenschaftshistorischen, methodologischen und theoretischen Ebene, auf welcher die kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechtsvorstellungen in ihrem Bezug auf literarische Werke sowie auf die kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Literaturvorstellungen in den Blick genommen werden.