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Im Vordergrund des Interesses steht die Verschriftlichung der Lebensvollzüge in den
Bereichen der Rechtsnormierung und des Prozeßwesens, der kommunalen und territorialen
Administration, des städtischen und kaufmännischen Rechnungswesens sowie der inneren
Organisation kirchlicher Institutionen und gesellschaftlicher Teilverbände. Hier übertrifft der
Prozeß der Verschriftlichung hinsichtlich seiner Dichte und Dynamik alles Vergleichbare in der
übrigen europäischen Welt. In bestimmbaren Schritten und unter zu verifizierenden
Bedingungen erfaßt und durchdringt das Medium der Schrift Bereiche, in denen es vorher nur
ansatzweise oder überhaupt nicht eingesetzt wurde; das geschriebene Wort erlangt im Verlauf
des 12. und 13. Jahrhunderts einen Stellenwert, den es wohl niemals zuvor besessen hatte. Das
"Pragmatische" der zu untersuchenden Erscheinungs- und Anwendungsformen bezieht sich
dabei in spezifischer Weise auf die Fixierung und Sicherung von Rechtsverhältnissen, wodurch
die Verknüpfung des Verschriftlichungsprozesses mit Veränderungen im Sozialgefüge und mit
Ansätzen zur Neugestaltung der politischen Organisation unmittelbar in Erscheinung tritt. Daß
die Träger des Verschriftlichungsprozesses - anders als in den übrigen Teilen Europas -
hauptsächlich Laien sind, die meist aktiv das öffentliche, politische Leben der Kommunen
mitbestimmen, akzentuiert die Frage nach einem Wandel auch in den mentalen Strukturen als
Hintergrund der Entwicklung; und so werden auch Voraussetzungen und Wirkungen der
Verschriftlichung in den sich verändernden Formen der Wirklichleitserfassung sowie im Welt-
und Selbstverständnis der Zeitgenossen untersucht, insbesondere in der Wahrnehmung und
Darstellung der eigenen Geschichte und Gegenwart.
Die Forschungen des Teilprojekts A lassen sich wie folgt in die dreifache Fragerichtung des
Sonderforschungsbereichs einordnen:
1. Die sich zusehends erweiternden Felder des Schrifteinsatzes im Zusammenhang ihrer
Gebrauchsräume zu beschreiben, bleibt trotz der in weiten Teilen gleichförmigen
Überlieferung eine Daueraufgabe. Denn mehr noch als die Masse der erhaltenen
Quellenzeugnisse fällt - bei ihrer sorgfältigen Lektüre - ins Auge, was nicht überliefert ist,
sondern sich nur indirekt aus Erwähnungen erschließen läßt. Erst aus einer behelfsmäßigen
Rekonstruktion von Geschriebenem, Abgeschriebenem, Vernichtetem und Verlorenem kann
eine annähernde Vorstellung vom tatsächlichen Umfang des einstigen Schriftgebrauchs
erwachsen.
2. Feldübergreifend werden die Formen von Schriftgut und -gebrauch analysiert. Auch hier ist im Untersuchungszeitraum ein starker Differenzierungsprozeß zu beobachten, aus dem nicht nur eine Vielfalt neuer Typen hervorgeht, sondern in den auch die äußere Gestalt - von der Anordnung des Niedergeschriebenen über das Beweismaterial bis hin zu neuen Formen der Erfassung und Darstellung von Sachverhalten - einbezogen ist.
Die Erforschung sowohl der Felder wie auch der Formen von Schriftlichkeit ist nicht isoliert
möglich, sondern muß stets auch die Funktion der untersuchten Schriftstücke in die
Fragestellung einbeziehen. Dies leitet sich unmittelbar aus der Intention des Projektes ab,
anwachsende Schriftlichkeit als Indikator für eine Differenzierung gesellschaftlicher
Bedürfnisse zu verstehen.
3. Zugleich mit den Zeugnissen, die die Träger des Verschriftlichungsprozesses produziert und
hinterlassen haben, werden sie selbst zum Gegenstand intensiver Untersuchung. Dabei gilt es,
mit geeigneten Methoden auch institutionelle "Träger", voran die Kommune, neben den die
Schriftproduktion tragenden Personenkreisen in ihrer spezifischen Rolle zu erfassen. Aus der
Zahl schriftkundiger Laien, wie sie in Italien schon im Frühmittelalter bezeugt sind, treten
quellenbedingt vor allem Notare, Richter und weitere kommunale Amtsträger in den
Vordergrund, eine Gruppe, aus der nicht selten auch Verfasser von Traktaten,
Geschichtswerken und Dichtungen hervorgegangen sind. Die Kommune erweist sich als
besonders geeigneter Ansatzpunkt für Forschungen, die, vom Verschriftlichungsprozeß in
engerem Sinne ausgehend, Sozial-, Institionen- und Bildungsgeschichte zu verbinden suchen.
Die Arbeit des Teilprojektes konzentrierte sich zunächst auf die Erforschung des zentralen Kristallisationspunktes kommunaler Schriftlichkeit: die Statutenbücher, in denen wohl sämtliche Stadtgemeinden Oberitaliens im früheren 13. Jahrhundert ihr Satzungsrecht kodifiziert haben. Am Beispiel der Statutencodices aus Como, Lodi, Novara, Pavia und Voghera läßt sich der Verschriftlichungsprozeß konkret verfolgen: von mündlichen Amtsträger-Eiden und einzelnen kollektiven Beschlüssen bis zum thematisch gegliederten Gesetzbuch. Die Analyse von sukzessiven Redaktionen - einem Charakteristikum der statutarischen Praxis in Italien - enthüllt häufig politische Wechsellagen als Auslöser für schriftliche Fixierung und erlaubt darüber hinaus paradigmatische Aussagen zum Umgang mit dem geschriebenen Wort. An der Aufnahme päpstlicher Häretikergesetze in die Kommunalstatuten wird gezeigt, wie die Schrift im Verlauf des 13. Jahrhunderts zunehmend 'mediengerechter' zur Sozialdisziplinierung und Kontrolle eingesetzt wird. Basierend auf zwei Codices aus den Jahren 1228 und 1276 ist die kommunale Gesetzgebung von Verona und ihre Verschriftlichung rekonstruiert worden. Für Vercelli ist der Stellenwert geschriebenen Rechts anhand der minutiösen Analyse von Gebrauchsspuren in den Texten durchgeführt worden. In einer umfassenden Studie über alle Texte statutarischen Charakters, die für das 13. Jahrhundert und die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts in Bergamo und seinem Contado erhalten sind, ist analysiert worden, wie Regelungen der Kommune und solche von Zünften, Waffengesellschaften, Landgemeinden etc. ineinandergreifen, woraus sich grundsätzliche Einsichten zur Beurteilung der statutarischen Normsetzung und zum Verständnis ihrer Techniken gewinnen lassen.
Vom Statutencodex aus, der sich immer deutlicher nur als Teil eines verzweigten Geflechts von juristisch-administrativer Schriftlichkeit erwies, richtete sich der Blick auf das gesamte Spektrum kommunalen Geschäftsschriftgutes. Deshalb wurden in einem gemeinsamen zweiten Schritt vor allem einzelne Sektoren des kommunalen Lebens auf ihre Durchdringung mit schriftlichen Techniken hin untersucht. Dabei tritt auf vielen Feldern ein gesteigerter Wille zur rationalen Erfassung und Ordnung von komplexen Materien sowie zur Planung und Kontrolle von Verwaltungsvorgängen hervor; dem Glauben an die Effizienz von schriftlicher Fixierung sind kaum Grenzen gesetzt. Die Arbeiten zum kommunalen Schriftgut werden durch eine Durchsicht der wichtigsten Artes notariae im Hinblick auf einschlägige Schriftguttypen fortgeführt. Zur Klärung von Aspekten, die für eine systematische Erfassung der Phänomene wichtig sind, wurden in Einzelstudien zum einen die Schriftlichkeit der Inquisitoren, zum andern die Formen der Informationsverarbeitung im kaufmännischen Schriftgut untersucht.
Während von der Schriftproduktion der großen Kommunen trotz punktueller Materialfülle oft nur Bruchteile erhalten geblieben sind, weisen kleinere genossenschaftlich verfaßte Institutionen häufig eine geschlossene, mitunter sehr dichte Überlieferung auf, die quantifizierende Aussagen erlauben kann. Monographien, die aus den Urkundenbeständen der Domkapitel von Novara, der Landkommune Chiavenna (zugleich aus einer Serie von Rechnungsbüchern), der Kommune Modena und der Pilgerkirche S. Maria di Monte Velate/Varese gearbeitet sind, steuern aus unterschiedlicher Perspektive Erkenntnisse über die Verschränkung von konfliktreichen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen einerseits und der Zunahme und Differenzierung von - oft präventiv eingesetzter - Schriftlichkeit andererseits bei. In diesen Untersuchungen tritt auch die gesteigerte Rolle der Schreibkundigen, insbesondere der Notare, in einem jeweils spezifischen, konkreten Lebensumfeld hervor.
Einzelnen Trägern des Verschriftlichungsprozesses widmen sich Forschungen zur Historiographie im Mailänder Raum. Eine Untersuchung zum Werk des Grammatiklehrers Bonvesin da la Riva zeigt eine neue, 'wissenschaftliche' Wirklichkeitserfassung des Autors, der nicht nur die Mailänder Geschichtsüberlieferung vollständig und überprüfbar rezipiert, sondern auch den Bericht aus seiner eigenen, kommunalen Lebenswelt mit statistischen Angaben belegt. Die Frage der Intention und Funktion historiographischer Texte steht im Mittelpunkt einer umfassenden Studie zur hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung Mailands, die auch hier signifikante Veränderungen im 13. Jahrhundert deutlich macht.
Für die nächsten Jahre ist das Arbeitsprogramm in besonderem Maße auf die den Verschriftlichungsprozeß tragenden Gruppen ausgerichtet. Die bereits erstellte Datenbank "Mailänder Amtsträger" soll auf die Frage hin ausgewertet werden, welche Zusammenhänge zwischen der Ausformung der Kommunalverfassung und dem Verschriftlichungsprozeß besteht und inwieweit einzelne Ämter und Berufsgruppen bereits als 'transpersonale Träger' dieses Prozesses gelten können. Zum Vergleich sollen die Verhältnisse in Como, für die eine besonders günstige Überlieferugnssituation besteht, betrachtet werden.
Hagen Keller - Thomas Behrmann (Hgg.): Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen,
Funktionen, Überlieferung (Münstersche Mittelalterschriften 68) München 1995.
Hagen Keller - Marita Blattmann (Hgg.): Formen der Verschriftlichung und Strukturen der Überlieferung in Oberitalien. Studien über Gestalt, Funktionen und Tradierung kommunalen Schriftgutes (Münstersche Mittelalter-Schriften) [in Vorbereitung].
Peter Lütke Westhues, Die Kommunalstatuten von Verona im 13. Jahrhundert. Formen und
Funktionen von Recht und Schrift in einer oberitalienischen Kommune (Gesellschaft, Kultur
und Schrift. Mediävistische Beiträge 2) Frankfurt am Main u.a. 1995.
Claudia Becker, Die Kommune Chiavenna im 12. und 13. Jahrhundert. Politisch-administrative
Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel in einer lombardischen Landgemeinde
(Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 3) Frankfurt am Main u.a. 1995.
Thomas Scharff, Häretikerverfolgung und Schriftlichkeit. Die Wirkung der Ketzergesetze auf die oberitalienischen Kommunalstatuten im 13. Jahrhundert (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 4) Frankfurt am Main u.a. 1996.
Letzte Änderungen: Juni 2002