Ludgeritor
Münster war kein Zentrum der Hexenverfolgung. In den Jahren zwischen 1552 bis 1644 gab es gerade einmal 29 Verfahren gegen 32 Frauen und acht Männer. Die Forschung geht dabei von sechs Todesurteilen aus. Zumindest ihre Namen, wie sie uns in den Quellen begegnen, und ihre Sterbedaten seien hier genannt: Die Meyersche tho Bruninck und die Molnersche wurden 1574 hingerichtet, bereits 1552 vermutlich die Kottersche. Im 17. Jahrhundert folgten Anna zur Steinhorst (1619), Elsa Buddenboems (1627) und Greta Bünichmann (1635). Zudem starben noch vor Abschluss des Verfahrens drei weitere Frauen an der Folter, nämlich Botter Gese (1585), Anna Kirlahei (1594) und Marie Brüggers (1627).
Erschütternd ist das Schicksal der Anna Holthaus, die zum Opfer von Lynchjustiz wurde, wie Sabine Alfing in mühevoller Recherchearbeit in den Beständen des Stadtarchiv Münster rekonstruierte: Ein Pflegekind bezichtige die 60-jährige Anna Holthaus im Dezember 1643 der Hexerei. Der Rat der Stadt, der damals auch die peinliche Gerichtsbarkeit ausübte, nahm Ermittlungen auf. Auch nach einer persönlichen Gegenüberstellung mit seiner Pflegemutter blieb das Kind bei seinen Vorwürfen. Zudem hatte die leibliche Tochter die Stadt verlassen, was zusätzliches Misstrauen weckte. Für den Rat waren das offenbar hinreichende Indizien, eine Folter anzuordnen – sie war dabei Teil der Befragung, nicht der Strafe. Anna Holthaus wurde in den Ludgeri-Turm verbracht, neben dem Niesingturm der Folterort bei den Hexenprozessen in Münster. Anna Holthaus überstand die Torturen zweimal, ohne unter diesem Druck zu gestehen. Dennoch wurde sie anschließend in einem Urteil des Rates der Stadt verwiesen. Der Knecht des Scharfrichters begleitete sie am 15. März 1644 bis zum Ludgeri-Tor. Als sie dieses durchschritten hatte, wurde sie von einer Bande von Jungen attackiert und im Stadtgraben ertränkt.
Der Glaube an Hexensabbat, Hexenflug, Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft und Schadenzauber kostete also auch in Münster Menschenleben, hier vor allem von Frauen am Rande der damaligen Gesellschaft. Doch sind die Zahlen andere als in Nachbarstädten: In Osnabrück wurden 260 Menschen als Hexen und Zauberer hingerichtet. In Lemgo – damals mit 5.000 Einwohnern etwa halb so groß wie Osnabrück und Münster – waren es 250.
Diese unterschiedliche Verfolgungsintensität erstaunt, weil die drei Städte relativ nah beieinanderlagen, sie mit denselben klimatischen Bedingungen und Ernteschäden der ‚Kleinen Eiszeit‘ zu kämpfen hatten und selbst das politische System insofern ähnlich war, als in allen drei Städten ein Stadtrat mit einem Landesherrn konkurrierte. Warum also gab es in Münster weniger Hexenprozesse?
Auffällig ist, dass sich der Rat der Stadt Münster eng am Verfahren eines gewöhnlichen Prozesses orientierte. Anders als die westfälischen Nachbarn akzeptierte er zum Beispiel keine Wasserprobe als Beweismittel. Auch lagen die Hürden für eine Folter in Münster vergleichsweise hoch. Das verhinderte Prozesswellen, die die Hexenverfolgung in Osnabrück und Lemgo prägten. Denn dort galt eine Bezichtigung, die unter Folter ausgesprochen wurde, als hinreichendes Indiz für eine Anklage. Vor allem aber wurden in Münster keine Hexenausschüsse – gewissermaßen Sondertribunale – eingerichtet.
Hinter diesen Eilgerichten stand die Idee eines crimen exceptum: Hexerei – so das damalige Argument – sei ein solches Ausnahmeverbrechen, dass man sich nicht mehr an den üblichen Regeln der Prozessführung orientieren könne. In der Konsequenz führte dies an einigen Orten zu einer exzessiven Anwendung der Folter und das wiederum dazu, dass ein Prozess häufig zahlreiche weitere nach sich zog, da unter Folter viele Bezichtigungen, sogenannte Besagungen, erfolgten. Hierin mag eine Warnung auch für die Gegenwart liegen, Prozessstandards nicht leichtfertig zur Disposition zu stellen. Doch wie lässt sich erklären, dass der Rat der Stadt bei Hexereiprozessen keine Ausnahme vom ordentlichen Prozess machte?
Im Vergleich zeigen sich drei wichtige Unterschiede zwischen Münster und Osnabrück beziehungsweise Lemgo: Erstens blieb Münster von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges stärker verschont, in dessen Gefolge es um 1630 zu einer Prozesswelle im damaligen Heiligen Römischen Reich kam. Zweitens war das Verhältnis zwischen Stadtrat und Stadtherr anders gelagert. In Münster war der Stadtherr katholisch, ebenso weitgehend der Rat, der in seinen Reihen jedoch durchaus Protestanten tolerierte. In Osnabrück und Lemgo aber rangen jeweils ein lutherischer Stadtrat mit einem katholischen Bischof bzw. mit einem reformierten Grafen um die Macht. Religiöse und politische Fragen überlappten sich stärker. Möglicherweise entstand ein politisches Klima, in dem sehr viel grundsätzlicher zwischen dem „Eigenen“ und dem bedrohlichen „Fremden“ unterschieden wurde. Dies könnte Hexereivorwürfen einen gefährlicheren Resonanzraum eröffnet haben. Bei einem dritten Grund steht man auf gesicherterem Boden: In Münster gab es – möglicherweise nach den Erfahrungen der Täuferzeit – anders als in Osnabrück oder Lemgo keine Einzelpersonen, die das politische Geschehen der Stadt über mehrere Jahre beherrschten und so die Hexenverfolgung forcieren konnten (wie beispielsweise der sogenannte Hexenbürgermeister Hermann Cothmann in Lemgo). Auch das wäre ein Beispiel dafür, wie Verfahren und Machtteilung Unrecht eindämmen können.
Jan Matthias Hoffrogge
Zum Weiterlesen
Sabine Alfing: Hexenjagd und Zaubereiprozesse in Münster. Vom Umgang mit Sündenböcken in den Krisenzeiten des 16. und 17. Jahrhunderts, Münster 1991.
Nicolas Rügge: Die Hexenverfolgung in der Stadt Osnabrück. Überblick – Deutungen – Quellen, Osnabrück 2015.
Nicolas Rügge: Konfession, Stadtfreiheit, Krieg. Die Lemgoer Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert, in: Andreas Lange/Lena Krull/Jürgen Scheffler (Hg.): Glaube, Recht und Freiheit, Bielefeld 2017, S. 203–213.