St.-Paulus-Dom, Paradies
Wer den Dom durch das Südportal betritt, gelangt zuerst in eine Vorhalle, Paradies genannt. Der Raum gilt nicht nur als einer der kunsthistorisch wertvollsten Orte in Westfalen. Er ist zugleich die älteste erhaltene Gerichtsstätte im Münsterland. Angeblich soll hier bereits im hohen Mittelalter das Sendgericht getagt haben, ein geistliches Niedergericht. Die Halle war damals zur Südseite offen und an der West- und Ostseite schmaler. Das entsprach dem traditionellen Bild einer Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel.
Seit 1243 gab es in Münster einen geistlichen Offizial, der das Offizialatsgericht leitete. Als Vertreter des Bischofs übte der Offizial die richterliche Gewalt des Ordinarius über seine Diözese aus. In 441 Kartons ist die Tätigkeit des Offizialatsgerichts seit 1537 bis heute sehr engmaschig archivalisch belegt. Üblicherweise war der Offizial rechtsgelehrt und hatte an einer Universität das römisch-kanonische Recht studiert. Das Offizialatsgericht war damit ein wesentlicher Faktor zur Erneuerung des mittelalterlichen Rechts im Sinne der zeitgenössischen Rechtswissenschaft. Rechtshistoriker sprechen hier von einer Rezeption des römisch-kanonischen Rechts.
Auch das Münsteraner Offizialatsgericht tagte in der Paradiesvorhalle. Der Blick in den Raum zeigt heute noch Spuren davon: Christus als Weltenrichter mit Segensgeste und dem Buch des Lebens in der Hand thront über dem inneren Portal, im Mittelalter also an der damaligen Außenwand des Domes. Der Apostel Paulus, Namenspatron des Domes, steht darunter mit dem Richtschwert als Symbolfigur für die geistliche Gerichtsbarkeit. Die heutige Skulptur stammt von 1535/36 und ersetzt einen wohl älteren mittelalterlichen Vorgänger. Rechts und links neben der Tür befinden sich zwei Reihen mit überlebensgroßen Heiligen, Aposteln und Stifterfiguren aus der Spätromanik. Sie haben alle Kriegsschäden überstanden und zählen heute zu den ältesten Skulpturen Westfalens, stilistisch deutlich beeinflusst von der französischen Dombaukunst. Versteht man die zentralen Figuren von Paulus und Christus als Richter, dann bilden die Seitenfiguren zugleich symbolisch das Urteilerkollegium. Tatsächlich befanden sich in der Frühen Neuzeit unter den Skulpturen die Bänke, auf denen die Mitglieder des Offizialatsgerichts Platz nahmen. Die Südseite des Paradieses und die verlängerten Seiten wurden spätestens nach den Täuferunruhen geschlossen. Das entsprach dem Grundsatz des gelehrten Gerichtsverfahrens, das im Gegensatz zur älteren Dinggenossenschaft hinter verschlossenen Türen stattfinden konnte.
Das Offizialatsgericht verhandelte bis 1725 in lateinischer Sprache, erst dann wurden deutsche Prozesse erlaubt. Die meisten Anwesenden konnten daher gar nicht verstehen, womit sich die Gerichtssitzungen beschäftigten, zumal weithin das Schriftlichkeitsprinzip herrschte. Dennoch gab es angeblich viele Zuschauer. Der Münsteraner Chronist Hermann von Kerssenbrock spottete deswegen in den 1570er Jahren, die Verhandlungen seien so undiszipliniert und laut wie eine Kneipe voller Betrunkener.
Seit dem Ende des 16. Jahrhundert geriet das Münsteraner Offizialatsgericht deutschlandweit ins Gerede. Das Fürstbistum Münster gehörte zu denjenigen katholisch-geistlichen Territorien, in denen die geistliche und die weltliche Gerichtsbarkeit besonders stark miteinander verflochten und kaum getrennt waren. Angeblich sollen deutlich über 90 % der Prozesse am Offizialat, also am geistlichen Hofgericht, ganz normale weltliche Zivilprozesse gewesen sein, obwohl es dafür im Fürstbistum eigentlich seit 1571 auch ein weltliches Hofgericht gab, das Fürstbischof Johann von Hoya eingerichtet hatte. Die häufige Personalunion zwischen Münster und dem Kurfürstentum Köln hatte das Offizialatsgericht Münster im Laufe der Jahrzehnte jedoch auch in weltlichen Streitigkeiten weithin zu einer Unterinstanz des kurkölnischen Offizialatsgerichts herabgedrückt. Im Rahmen der Appellation konnten Prozesse auf diese Weise aus der Gerichtsgewalt des Alten Reiches herauswachsen und beim Apostolischen Nuntius sowie letztlich beim päpstlichen Gericht, der Rota Romana in Rom, anhängig werden. Das befürchteten jedenfalls zahlreiche Adlige aus dem Münsterland wie auch einige Untertanen und führten deswegen vor dem Reichskammergericht in Speyer Prozesse gegen die verworrenen Instanzenzüge am Offizialatsgericht Münster. Dahinter stand die verfassungsrechtliche Frage, ob Münster überhaupt ein eigenständiges reichsunmittelbares Territorium war oder nicht inzwischen ein bloßes Nebenland des kurkölnischen Landesverbundes darstellte. In typisch frühneuzeitlichen Kompromissentscheidungen erklärte das Reichskammergericht die Instanzenzüge von Münster nach Köln wie auch von Münster nach Speyer gleichermaßen für ordnungsgemäß. Eine prinzipielle Klärung des Problems erfolgte nie.
Nur wenige Schritte von der Paradiesvorhalle entfernt befindet sich das heutige Bischöfliche Offizialat an der Nordseite des Domes.
Peter Oestmann
Zum Weiterlesen
Elisabeth Kloosterhuis: Fürstbischof Johann von Hoya und das Eindringen der Reichsjustiz in den fürbistümern Münster, Osnabrück und Paderborn zwischen 1566 und 1574, in: Wesfälische Zeitschrift 142 (1992), S. 57-117 (98-103).
Peter Oestmann: Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 61), Köln, Weimar, Wien 2012.