| EViR Insights
EViR Insights

Rechtsvielfalt und Rechtseinheit auf dem Rechtshistorikertag 2022

von Jan Matthias Hoffrogge

Endlich konnte er in Zürich stattfinden, der 43. (Deutsche)[1] Rechtshistorikertag.[2] Der wohl wichtigste rechtshistorische Kongress des deutschsprachigen Raums stand im August 2022 unter dem Oberthema der „Geltungsformen des Rechts“. Für unser Käte Hamburger Kolleg war er von besonderem Interesse und daher reisten neben den beiden Direktoren auch eine Reihe von Mitarbeitern sowie ehemaligen, aktuellen und zukünftigen Fellows an die Limmat.

Der Campus Irchel der Universität Zürich, Ort der meisten Vorträge
© Jan Matthias Hoffrogge

Unersetzbarer Austausch

Zum einen war in Zürich deshalb Gelegenheit, sich mit neuen und alten Kollegiaten auszutauschen und von ihren Forschungen zu erfahren. Jakub Urbanik (Warschau), der im September 2022 als Fellow zum Kolleg stoßen wird, zeigte anhand ausgewählter Papyri-Quellen Kennzeichen antiker Schiedsgerichtsbarkeit auf. Er argumentierte dabei insbesondere gegen die These A. Arthur Schillers, in der Spätantike habe es keine Gerichtshöfe mehr gegeben.

Jakub Urbanik, bald Fellow am Kolleg, trug über Schiedsgerichte und ordentliche Gerichte in der Spätantike vor
© Jan Matthias Hoffrogge

Sebastian Spitra (Wien), Fellow der ersten Kohorte, erhielt den renommierten Preis des Rechtshistorikertages für seine jüngst publizierte Dissertation über „Die Verwaltung von Kultur im Völkerrecht“, an die sich auch sein Kollegprojekt anschloss.

Susanne Lepsius (München), seit April 2022 Fellow am Kolleg, leitete eine Sektion zu „Expertenkulturen des Rechts“. Und José Luis Alonso, Lehrstuhlinhaber in Zürich und Mitglied des Kollegbeirates, war einer der Organisatoren und Gastgeber der sehr gelungenen Tagung.

Schnell kam man ins Gespräch über laufende wie zukünftige Projekte am Kolleg sowie das akademische Leben in Münster. Keine Zoomkonferenz, so der einhellige Tenor, kann einen solchen persönlichen Austausch ersetzen.

Relevanz von Rechtseinheit und -vielfalt

Sehr einschlägig waren zum anderen die Vorträge. So gab es am Dienstagmorgen eine eigene Sektion zum „Rechtspluralismus“. Mehr als eine Randnotiz war in diesem Zusammenhang ein Hinweis von Danica Summerlin (Sheffield): Ihre Forschungen zum Pluralismus des kanonischen Rechts im Mittelalter stellte sie eingangs in Bezug zu einem national legalism im United Kingdom – einem Willen, Recht unter nationalen Vorzeichen zu vereinheitlichen –, der unter anderem zum Brexit beigetragen habe.

Belangreich war ebenso ein Plenarvortrag, den Lauren Benton hielt und der von Thomas Duve (Frankfurt), ebenfalls Mitglied des Kollegbeirates, moderiert wurde. Die Yale-Professorin, deren Arbeiten zur Rechtsvielfalt und Rechtsvereinheitlichung in der Vormoderne bereits Gegenstand einer unserer Reading Sessions waren, sprach – leider lediglich via Zoom – über das internationale Recht im imperialen Kontext. Benton nahm dabei besonders das Phänomen des protection shopping in den Blick: Im 19. Jahrhundert etwa schlossen die Bewohner der Kokosinseln sowohl Abkommen mit den Niederlanden als auch mit Großbritannien. Damit spielten sie die beiden Großmächte gegeneinander aus. Andere Beispiele betrafen portugiesische Kolonien im Indien des 16. Jahrhunderts, zudem die mongolische Herrschaft in Bagdad im 13. Jahrhundert. Insofern wurde ein breiter Bogen gespannt – in der Diskussion jedoch manche Tiefenbohrung vermisst.

Selbst ohne entsprechende Ausflaggung im Titel berührte eine Reihe von Vorträgen Phänomene von Rechtseinheit und -vielfalt. Das galt gerade auch für das sogenannte Forum der Jungen. Kristin Boosfeld, jüngst in Münster habilitiert, informierte in diesem Rahmen unter anderem über die rechtsvereinheitlichende Wirkung der Schriften holländischer Juristen wie Hugo Grotius in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Einen „conflict of laws“ beobachtete hingegen Arnaud Besson (Athen) in Bezug auf die antiken griechischen Poleis nach ihrer Inkorporation in das Römische Reich.

Selbst im festlichen Abendvortrag Jakob Tanners kamen Phänomene der Rechtseinheit und Rechtsvielfalt zur Sprache. Ausgehend vom Verhältnis zwischen allgemeiner Geschichtswissenschaft und der Rechtsgeschichte skizzierte der Doyen der Schweizer Zeitgeschichtsschreibung nämlich zwei zukünftige Forschungsfelder: die Entstehung (und Gefährdung) des Grundrechtschutzes sowie die Genese des internationalen Privatrechts im 19. Jahrhundert. Zuvor hatte Tanner konstatiert, dass sowohl die allgemeine Geschichtswissenschaft als auch die Rechtsgeschichte in den letzten Jahrzehnten verstärkt die „Hybridität und Binnendifferenzierung“ des Rechts in den Blick genommen haben. Diese neue Betrachtungsweise sehe im Recht nicht länger ein bloßes Derivat von Macht und erleichtere den interdisziplinären Austausch. 

Rechtsvielfalt authentisch: Stiftsbibliothek St. Gallen

Unbedingt erwähnt werden muss noch eine Exkursion in die Stiftsbibliothek St. Gallen. Rechtsvielfalt begegnete den Teilnehmern dort ganz plastisch. Die zehn Meter hohe Mauer, die nach der Reformationszeit Katholiken (im Stiftsbezirk) und Protestanten (in der Vorstadt) voneinander trennte und überdies eine Staatsgrenze markierte, ist freilich nach der Vereinigung der beiden Herrschaften in napoleonischer Zeit abgebaut worden. Im Museum, das sich über die ehemaligen Stiftsgebäude verteilt, kann man sich aber in einer – wenngleich sehr präsentistisch angelegten Ausstellung – über die rechtshistorische Buntscheckigkeit dieser Landschaft informieren, in der der Fürstabt mit der Stadt konkurrierte und sich in vielen Fällen Herrschaftsrechte teilte. Ein Highlight der Ausstellung ist der Klosterplan von der Insel Reichenau aus dem 9. Jahrhundert. Entworfen wurde er als Blaupause für die neuen Reichsklöster. Im Rahmen einer Lehrfilmvorführung wird er aber immerhin für jeweils 20 Sekunden gezeigt.[3]

In Kleingruppen konnten in der St. Galler Stiftsbibliothek mittelalterliche Codices betrachtet werden
© Jan Matthias Hoffrogge

Noch beeindruckender waren indessen mittelalterliche Codices, die uns im Rahmen der Führung in Kleingruppen ganz unbefangen gezeigt wurden: Unter anderem ein Band mit sogenannten leges barbarorum (früher mit „Stammesrechten“ oder „Volksrechten“ übersetzt) aus dem Jahr 793. In späteren Jahrhunderten wurde der Codex zwar mit einem neuen Buchrücken versehen. Aber er ist doch ein authentischer Überrest mittelalterlicher Rechtskultur. Wichtig waren solche Aufzeichnungen damals, weil innerhalb eines Territoriums für die Angehörigen unterschiedlicher ‚Stämme‘ (Rechtsgemeinschaften) unterschiedliches Recht galt, ein Franke also beispielsweise für das selbe Vergehen anders verurteilt wurde als ein Alemanne. Insofern hatten wir Exkursionsteilnehmer hier ein sehr frühes, pergamentenes Zeugnis von Rechtsvielfalt vor uns liegen, über das wir uns obendrein aus unterschiedlichen Perspektiven direkt austauschen konnten.

Die wenigen Schlaglichter – ausführlichere Berichte veröffentlichen Peter Oestmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Gregor Albers in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte – mögen bereits zeigen, dass die Oberthemen des Kollegs in der rechthistorischen Forschung über alle Epochen- und Ländergrenzen große Aufmerksamkeit erfahren. Wichtiger vielleicht noch, gerade im Zusammenhang mit dem erwähnten national legalism: Sie betreffen letztlich eben immer auch unsere gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten.

Tagungsseite mit Programm

 

Anmerkungen

[1] Auf das Adjektiv wurde angesichts des Austragungsortes verzichtet – erstmals wie Peter Oestmann in einem Bericht für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2022 festhielt und vielleicht nicht allein wegen des Austragungsortes. Eine Nebenbeobachtung: In einer der Festansprachen war vom „Europäischen Rechtshistorikertag“ die Rede – ganz falsch ist das nicht, angesichts von Vortragenden und Teilnehmern beispielsweise aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien, Finnland, Großbritannien, der Slowakei, Polen, Schweden und den Niederlanden.

[2] Die Austragung hatte sich um zwei Jahre verzögert, bedingt durch die bekannten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. In den Anfangsjahren waren solche Verschiebungen geradezu der Normalfall gewesen. Siehe dazu eine Kurzdarstellung von Michael Stolleis aus dem Ersten Band des Handwörterbuchs der Rechtsgeschichte, abrufbar unter http://www.rechtshistorikertag.de/geschichte/ (22.08.2022).

[3] Ein Modell wird dazu eigens für einige Sekunde hochgefahren und der Plan mit Speziallampen besonders schonend beleuchtet.

© khk

Über den Autor

Dr. Jan Matthias Hoffrogge ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der (Rechts-)Geschichtsdidaktik und Erinnerungskultur.

Zitieren als:

Hoffrogge, Jan Matthias, Rechtsvielfalt und Rechtseinheit auf dem Rechtshistorikertag 2022, EViR Blog, 26.08.2022, https://www.uni-muenster.de/EViR/transfer/blog/2022/20220826rechtshistorikertag.html.

Lizenz:​

​​This work is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.