„Mein Kopf ist mein Labor“
Frau Prof. Stevens, mit welchen wissenschaftlichen Fragen beschäftigen Sie sich aktuell?
Als Mathematikerin arbeite ich insbesondere auch mit Biologen zusammen und beschäftige mich mit entwicklungsbiologischen Fragestellungen, die gleichzeitig mathematisch spannend sind. Wir entwickeln mathematische Modelle, also Gleichungen, die im Idealfall Erklärungen oder Vorhersagen für biologische Prozesse liefern. Ein Beispiel ist die Symmetriebrechung zu Beginn jeder Entwicklung. Embryonen sind anfangs nahezu kugelförmig. Mit dem Fortschreiten der Zellteilungen bricht diese dreidimensionale Symmetrie. Es bilden sich Einstülpungen, sogenannte Invaginationen. Wir fragen uns: Wie viel dieser Symmetrieveränderung ist genetisch im Voraus angelegt? Inwieweit entwickelt der Embryo als entwicklungsbiologisches System seine eigene Dynamik, während er größer wird? Um solche nicht linearen Veränderungen in Raum und Zeit zu beschreiben und zu verstehen, ist die Mathematik eine ideale Sprache.
Ich beschäftige mich außerdem seit längerem mit der Bewegung von Mikroorganismen – wie etwa der unserer Darmbakterien, sowie der von Zellen und von Molekülen. Wenn Zellen etwa ein chemisches Signal erhalten, und sich in Richtung der Quelle dieses Signals bewegen, weil es dort stärker ist, dann spricht man von Chemotaxis. Unsere mathematischen Modelle beschreiben Muster von Zellpopulationen, die aufgrund dieser weit verbreiteten Bewegungsweise entstehen. Wann sind wie viele Zellen wo? Wie ist der erwartete, normale Zustand des Zellverbandes? Wie sehen Anomalien aus? Kann dies an Veränderungen der Zellbewegung liegen, die eventuell krankhaft sind? Dabei versuchen wir mit der mathematischen Analyse unserer Modelle genau die Parameter zu finden, die entscheidend für solche Prozesse sind. Außerdem spielt Chemotaxis auch eine Rolle für die Evolution vom Einzeller zum vielzelligen Organismus.
Was macht Sie als Wissenschaftlerin persönlich aus?
Die Biologie hat mich schon immer fasziniert. Die Mathematik noch viel mehr. Als ich mich nach der Schule für ein Studium entschied, fiel die Wahl daher klar auf die Mathematik, aber mit Biologie als Nebenfach, ohne dass ich damals eine direkte Verbindung beider Fächer gesehen habe. Heute ist mir klar, dass wenn ein Problem biologisch interessant ist, fast immer hochspannende mathematische Fragestellungen dahinterstecken. Ich finde spannende mathematische Probleme natürlich auch innerhalb der Mathematik selbst. Die Biologie ist für mich als Mathematikerin aber immer sehr befruchtend.
Was ist Ihr großes Ziel als Wissenschaftlerin?
Es fehlt eine fundierte Kontinuumsmechanik für biologische Gewebe, ähnlich der Kontinuumsmechanik in der Physik. Diese beschreibt, wie sich Materialien, Festkörper, Flüssigkeiten und Gase aufgrund innerer und äußerer Kräfte verändern und verformen. Es gibt durchaus solche Ansätze auch für Gewebe, aber es fehlt eine mathematisch saubere Beschreibung. Eines der Probleme dabei: Zellen teilen sich. Wenn man einzelne Zellen mathematisch modelliert und dabei zum Beispiel eine Zellpopulation als Referenzstruktur definiert, verändert sich diese, sobald Zellteilung stattgefunden hat. Auf einmal ist in diesem Zellverband eine Zelle mehr, die in der ursprünglichen Referenzstruktur noch gar nicht auftauchte. Daher arbeitet man möglicherweise besser ohne eine solche übliche Referenzstruktur. Aktuell ist es überhaupt nicht klar, wie man derartige Probleme mathematisch gut modelliert. Ich bin aber überzeugt davon, dass es hierfür irgendwann eine Lösung geben muss und geben wird.
Außerdem würde ich gerne wissen, ob geometrische Strukturen in der Biologie wichtige Funktionen übernehmen. Mitochondrien zum Beispiel haben eine stark gefaltete Membranstruktur. Wenn die Oberfläche einer Membran größer ist, gibt es mehr „Platz“ für biochemische Reaktionen. Diese Struktur wird aber immer wieder verändert, auf- und abgebaut. Warum? Wäre es nicht viel effizienter, wenn die Struktur fest bleiben würde? Die Natur muss sich doch etwas bei dieser dauernden Veränderung der Geometrie gedacht haben.
Was ist Ihr liebstes technisches Forschungsspielzeug und was kann es?
Mein Kopf ist mein Labor. Ich benötige zum Arbeiten meist nur Papier und einen Kugelschreiber. Man kann überraschend viel mit mathematischen Gedankenexperimenten erreichen. Diese liefern vielleicht keine konkreten Zahlen, aber sehr hilfreiche Abschätzungen. Ich entwickle Gleichungen für biologische Phänomene und werte deren Lösungen qualitativ aus. Ich suche nach kritischen Phänomenen, Musterbildung, typischen Skalierungen und Symmetrien: Wie kann die Lösung überhaupt aussehen, wie kann sie auf gar keinen Fall aussehen, und was bedeutet das genau für das mathematische Modell selbst und für die Biologie? Daher ist meine Mathematik auch ohne Computersimulationen angewandt.
Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftlerin?
Ich erlebe heute immer wieder sehr viele Glücksmomente bei meiner Arbeit. Aber der prägendste Moment, an den ich mich erinnere, war meine erfolgreich abgeschlossene Diplomarbeit in der Zahlentheorie. Ich wollte mir damals selbst beweisen, dass ich eine Mathematikerin bin. Dass ich eine mathematische Fragestellung beantworten kann, deren Lösung nicht in Büchern steht. Es war zwar ein sehr kleiner Beitrag, aber er hat mich sehr glücklich gemacht und war wichtige persönliche Basis für die viel größeren Herausforderungen danach.
Und wie sah Ihr größter Frustmoment aus?
Das war während meiner Promotion. Ich hatte meine mathematische Forschungsrichtung gewechselt, kam aus der reinen Mathematik zur angewandten Mathematik – den partiellen Differentialgleichungen. Wegen des Themas meiner Doktorarbeit habe ich mir zudem noch Stochastik beigebracht. Ich musste also unheimlich viel an Wissen und mathematischen Methoden in kurzer Zeit nachholen und habe dabei Grenzen der Belastbarkeit zu spüren bekommen. Das Durchhalten hat sich gelohnt.
Auf welche große, wissenschaftliche Frage hätten Sie gern eine Antwort?
Als Postdoktorandin habe ich geglaubt, dass unser Fach – die Mathematik in den Lebenswissenschaften – zum heutigen Zeitpunkt noch deutlich weiter wäre als es bisher der Fall ist, und dass Biologie, Mathematik und Medizin so eng verzahnt sein würden wie Mathematik und Physik. Für die Physik hat die Mathematik viele korrekte Vorhersagen gemacht, zum Funktionieren von physikalischen Prozessen, die experimentell nicht untersucht waren oder nicht untersucht werden konnten. Historisch haben mathematische Gedankenexperimente fundamental zur physikalischen Hypothesenbildung und zu unserem heutigen physikalischen Verständnis beigetragen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das in der Biologie und der Medizin auch so sein kann. Die Mathematik benötigt dafür sehr versierte Köpfe. Und wir müssen für diesen Zugang auch die dafür passenden biologischen und medizinischen Fragestellungen angehen.
Wir könnten – als spontanes Beispiel – viel mehr Vorhersagen über metabolische Prozesse und deren Dynamik machen als uns das bisher gelingt. Es gibt dafür schon einige gute Ergebnisse, aber eben einzelne. Bei großen biochemischen Netzwerken ist es wichtig zu wissen, was deren Hauptkomponenten und wesentlichen Skalen sind und wann diese welche Rolle spielen. Ich bin davon überzeugt, dass Mathematik hier wichtige grundsätzliche Beiträge leisten kann.