„Ich könnte stundenlang Blutgefäße anschauen“
Herr Prof. Schulte-Merker, mit welcher wissenschaftlichen Frage beschäftigen Sie sich aktuell?
Ich forsche an Zebrafisch-Embryonen. Das Tolle an ihnen ist: Sie sind in den ersten fünf Tagen ihres Lebens transparent, außerdem entwickeln sie sich außerhalb der Mutter. Wir können also wunderbar in ihr Innerstes blicken und den Fischen beim Entstehen zusehen. Außerdem entstehen Blut- und Lymphgefäße schon innerhalb weniger Stunden – nach 26 Stunden schlägt das Herz, nach 28 Stunden bewegen sich die ersten roten Blutkörperchen. Wir müssen also nicht lange warten, bis wir die Entwicklung der Blut- und Lymphsysteme untersuchen können. Genau das tun wir nämlich. Wir schauen Zellen dabei zu, wie sie komplexe Strukturen bilden, Arterien, Venen, Lymphgefäße, das gesamte vaskuläre System eben. Indem wir einzelne Gene ausschalten, können wir nachvollziehen, für welchen Entwicklungsschritt sie verantwortlich sind. Auf diese Weise haben wir zum Beispiel das Gen CCBE1 gefunden, das für die Bildung von Lymphgefäßen sehr wichtig ist. Mutationen in diesem Gen führen beim Mensch zum sogenannten Hennekam-Syndrom, und Patienten mit dieser Krankheit leiden an Lymphödemen.
Was macht Sie als Wissenschaftler persönlich aus?
Ich habe im Dezember 2014 meine Professur in Münster übernommen. Für mich und meine Gruppe ist das eine tolle Gelegenheit, ich hatte schon vom Hubrecht Institut in Utrecht aus viele Kooperationen mit Münsteraner Forschern. Jetzt schätze ich die nahen Wege zu ihnen. Meine Frau und ich fühlen uns außerdem in Münster sehr wohl, während unsere Kinder in Amsterdam und Tübingen leben. Wenn ich nicht im Labor bin, lese oder laufe ich. Ich spiele auch Schach. Und wenn Zeit ist, versuche ich einmal im Jahr tauchen zu gehen.
Was ist Ihr großes Ziel als Wissenschaftler?
Das übergeordnete Ziel ist, zu verstehen, wie Gefäße entstehen. Mich treiben eher viele kleine Ziele an. Fast täglich kommen in unseren Forschungsprojekten neue Fragen hinzu. Diese will ich auf möglichst hohem wissenschaftlichem Niveau beantworten und damit die Grundlagenforschung Schritt für Schritt weiterbringen.
Was ist Ihr liebstes technisches Forschungsspielzeug und was kann es?
Ich sehe die Labortechnik nicht als Spielzeug, dafür sind die Geräte zu teuer. Spaß habe ich mit ihnen trotzdem. Ich könnte zum Beispiel stundenlang ‚imagen‘, also Fischembryonen, ihre Blutgefäße und genetischen Besonderheiten unter einem Mikroskop sichten. Auch nach 20 Jahren bekomme ich davon nicht genug. Die Technik dafür wird auch immer besser. Wir können etwa gleichzeitig Lymphsystem, Blutsystem und Knochen im selben Embryo farblich markieren und bei ihrer Entwicklung zusehen. Das war vor einigen Jahre noch nicht einmal denkbar.
Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftler?
Den größten Moment kann ich gar nicht benennen. Man lebt ja nicht von den zwei Highlights im Jahr. Häufig sind es Kleinigkeiten, die unsere Forschung weiterbringen und uns zu einer nächsten Frage führen. Diese kleinen Glücksmomente zusammen führen im besten Fall zu einer signifikanten wissenschaftlichen Veröffentlichung, einem anerkannten Paper. Die kleinen Schritte selbst sind es aber, die glücklich machen.
Welches wissenschaftliche Phänomen begeistert Sie heute noch regelmäßig?
Auch nach 20 Jahren Forschung an Zebrafischen frage ich mich noch: Was treibt Zellen überhaupt an? Diese Frage stellt uns immer wieder vor Rätsel. In einem genveränderten Zebrafisch haben wir vor kurzem etwa Zellen beobachtet, die sich an einem Punkt vollkommen anders verhalten als gewöhnlich. An dieser Stelle fehlt den Zellen offenbar die Information, wie sie sich verhalten sollen. Wir wissen noch nicht warum das so ist.
Wie viel Kunst, Kreativität und Handwerk steckt in Ihrer Wissenschaft?
Man benötigt von allem etwas. Das ist wie beim Kochen. 70 Prozent ist Handwerk, das man erlernen kann. Man braucht aber auch die richtigen Zutaten und die nötige Kreativität, um aus den Zutaten ein tolles Essen zu zaubern. In der Forschung könnten wir ohne Konfokalmikroskopie nicht arbeiten, ebenso wenig ohne unsere Fischanlage. Das sind die Zutaten. Wir brauchen aber auch das richtige Gespür dafür, welchen wissenschaftlichen Fragen wir nachgehen und wie wir am effizientesten ans Ziel kommen.