„Sport für Endothelzellen“
Herr Prof. Dr. Schnittler, mit welcher wissenschaftlichen Frage beschäftigen Sie sich aktuell?
Ich untersuche sportlich trainierbare Zellen, ganz konkret Endothelzellen. Das sind Zellen, die Blutgefäße auskleiden und damit die Barriere zwischen Blut und Gewebe bilden. An der Endotheloberfläche fließt ständig Blut entlang. Durch diesen Blutstrom und den Blutdruck wirken mechanische Spannungen auf Endothelzellen, die wir Schubspannungen oder im englischen „shear stress“ nennen. Diese Spannungen sind im Herz- und Gefäßsystem sehr unterschiedlich. Überschreitet diese Spannung einen gewissen Grenzwert, ändern Endothelzellen ständig ihr Erscheinungsbild und ihre Funktion. Diese Anpassung kann man in gewisser Weise als Training bezeichnen. Wir untersuchen unter anderem, inwieweit Zellen durch dieses Training widerstandsfähiger werden. Das könnte zum Beispiel bei Entzündungsreaktionen durch Infektionen oder Allergien und vielleicht auch bei der Metastasierung von Tumoren eine erhebliche Bedeutung haben.
Was macht Sie als Wissenschaftler persönlich aus?
Mich begeistert die Kreativität in der Wissenschaft, und ich finde insbesondere die zelluläre Organisation überwältigend. Sonst wäre ich als Mediziner wohl nicht der Forschung treu geblieben. Es macht mir Spaß, jungen Menschen die Wissenschaft nahezubringen und mit Ihnen zu arbeiten, sie auszubilden. Gleichzeitig ist das auch eine große Herausforderung. Ich finde es enorm stimulierend, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Nationen und Kulturkreisen zusammenzuarbeiten. Das ist auch an der Internationalität unserer Arbeitsgruppe und unseren internationalen Kooperationen erkennbar. Neben zahlreichen deutschen Mitarbeitern sind in meinem Institut Kollegen aus China, Palästina, Weißrussland, Russland und dem Iran tätig.
Was ist Ihr liebstes technisches Forschungsspielzeug und was kann es?
Vor dem Medizinstudium habe ich eine Ausbildung als Maschinenwerkzeugbauer absolviert. Mein technisches Verständnis kann ich auch an der Universität nutzen. Wir haben in Münster vor vielen Jahren unser automatisiertes BTF-Flow-System entwickelt. Damit können wir definierte Blutströmungsprofile etwa an kultivierten Endothelzellen erzeugen und zeitgleich auch die Barrierefunktion der Zellen untersuchen. Wir kombinieren das BTF-System mit mikroskopischen Techniken wie der Fluoreszenz-Lebendmikroskopie, der Superresolution-Mikroskopie oder – ganz neu – der digitalen Holographie. Meine technische Ausbildung ist mir auch bei der Einrichtung unseres wunderschönen PAN-Zentrums zu Gute gekommen. Ich habe im anatomischen Institut ein weltweit neuartiges System zur Aufbewahrung und Lagerung von Körperspendern und Körperspenderinnen initiiert und aufgebaut. Das erfolgte in ständiger Absprache mit den Industriepartnern, die das System gebaut haben. Das Dekanat der medizinischen Fakultät hatte vollstest Vertrauen in unser Vorhaben. Das hat uns sehr geholfen, ebenso wie die Unterstützung des Infrastrukturmanagements des Universitätsklinikums. Wir haben das System unter ethischen Aspekten zum respektvollen Umgang mit den Körperspenden konzipiert, aber auch unter dem Aspekt der Arbeitsplatzsicherheit für unsere Mitarbeiter.
Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftler?
Das war während meiner Doktor-Arbeit im Jahr 1984. Ich habe damals mit meinen beiden Laborleitern ein Schubspannungssystem aufgebaut. Damit konnten wir erstmals sehen, wie Endothelzellen unter ähnlichen Bedingungen wie in Blutgefäßen reagieren. Sie bilden unter bestimmten Bedingungen Aktin- und Myosin-Kabel, also Stressfasern. Die stabilisieren die Zellen, die mechanisch beansprucht werden. Diese Fasern haben mir quasi im Mikroskop entgegengeleuchtet. Das war toll und wohl der Moment, der mich für die Wissenschaft nachhaltig begeisterte.
Welches wissenschaftliche Phänomen begeistert Sie heute noch regelmäßig?
Mich beeindruckt die hohe Dynamik von Zellen, wie sie einen Verband bilden und innerhalb dieses Verbandes miteinander kommunizieren. Das geschieht unter anderem über Zellkontakte, die aus kleinsten Molekülkomplexen aufgebaut sind. Mit Hilfe der Lebendzell- und der Superresolutionmikroskopie können wir die Dynamik der Molekülkomplexe an lebenden Zellen untersuchen. Es ist unglaublich spannend zu sehen, wie sich kleinste Funktionseinheiten bilden und wie die Proteine miteinander interagieren, was wiederum zu einer Form- und Funktionsänderung von Zellen führt. Das ist eines der Hauptthemen unseres Forschungsgebietes. Und wir wenden diese Techniken an, um die Regulation der Zellen unter Schubspannungen und Infektionen zu untersuchen.
Wie viel Kunst, Kreativität und Handwerk steckt in Ihrer Forschung?
Forscher benötigen grundsätzlich viel Einfühlungsvermögen und Phantasie. Sie müssen auch Fiktionen und Hypothesen entwickeln, denen sie dann nachgehen können. Wichtige Voraussetzungen für eine kreative wissenschaftliche Arbeit sind meiner Meinung nach die Begeisterung für die Arbeit und eine gewisse Frustrationstoleranz. Auch manuelle Geschicklichkeit und viel Disziplin sind notwendig, um die teilweise mühsamen Experimente durchzuführen.