„Mich begeistert das große Rätsel Gehirn“
Herr Prof. Klingauf, mit welcher wissenschaftlichen Frage beschäftigen Sie sich aktuell?
Ich will besser verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Dafür schaue ich auf die kleinsten Teile des Gehirns, auf die Synapsen von Nervenzellen. Jeder Mensch hat rund 1016 solcher Synapsen im Gehirn. Über sie fließen sämtliche Nervenimpulse. Solche Signale werden im Körper elektrisch weitergeleitet. Im Gehirn ist das aber nicht möglich, weil Nervenzellen sonst kaputt gehen würden. Die Übertragung verläuft nicht elektrisch, sondern chemisch. Das funktioniert über Hormone, konkreter über Proteine. Bei jedem Signal werden tausende Proteine ausgestoßen. Dabei ist nicht nur Präzision gefragt, damit das Signal richtig weitergegeben wird, sondern auch Schnelligkeit. Das Gehirn hat schließlich weit weniger als eine Millisekunde Zeit, um jedes einzelne Signal zu verarbeiten. Wir fragen uns: Wie werden diese Proteine recycelt? Wie werden die Nanobehälter, in denen sich die Proteine sammeln, nach einer Ausschüttung wiederhergestellt?
Was macht Sie als Wissenschaftler persönlich aus?
Ich wollte schon als kleiner Junge Forscher werden, hatte mich damals aber eher als Archäologe gesehen, der Mammut-Knochen ausgräbt. Im Studium habe ich dann die Neurobiologie kennengelernt. Seitdem bin ich von dem großen Rätsel „Gehirn“ begeistert. Die Frage, wie das Gehirn als Ganzes funktioniert, ist aber zu groß. Deshalb beschäftige ich mich mit einzelnen Nervenzellen. Nobelpreisträger Prof. Erwin Neher, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, hat mich zu meinem Thema gebracht.
Was ist Ihr großes Ziel als Wissenschaftler?
Ich möchte nicht nur in Nervenzellen hineinblicken, sondern selbst künstliche Synapsen erzeugen. Aktuell arbeiten wir an einem Chip, auf dem wir kleine künstliche Nervenzellen-Netzwerke bilden können. Wenn das gelingt, könnten wir Prozesse in Nervenzellen noch besser verstehen und neue anstoßen.
Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftler?
Das war im Jahr 2014. Meine Mitarbeiterin Julia Trahe hat mir erzählt, dass sich tatsächlich neue Synapsen an von uns vordefinierten Stellen gebildet haben, und wir davon mikroskopische Bilder machen konnten. In diesem Moment wussten wir, dass unser Ansatz funktionieren kann. Wir mussten nur noch beweisen, dass die neu gebildeten „Schwellungen“ an den Axonen tatsächlich funktionale Synapsen sind.
Und wie sah Ihr größter Frustmoment aus?
Im Jahr 1997 habe ich in Stanford an einem ähnlichen Versuch gearbeitet. Wir hatten festgestellt, dass es in einer Gehirnregion besonders große Synapsen gibt. Es sah so aus, als könnten wir diese großen Synapsen elektrophysiologisch mithilfe der sogenannten Patch-Clemp-Technik direkt in hoher Auflösung untersuchen. Das wäre für die Forschung ein enormer Vorteil. Wir waren voller Vorfreude auf die Ergebnisse. Als wir die Synapsen aber näher unter dem Elektronenmikroskop betrachten konnten, stellte sich heraus, dass es sich einfach um eine große Ansammlung kleiner Synapsen handelt. Umso glücklicher bin ich, dass wir mittlerweile neue Synapsen auf einem vorgegebenen Raster auf einem Chip bilden können. Die können wir jetzt tatsächlich mit hochauflösenden, bildgebenden Verfahren untersuchen.
Welches wissenschaftliche Phänomen begeistert Sie regelmäßig?
Ich beschäftige mich gern mit Fragen rund um die Genetik. Vor kurzem bin ich auf eine Region im türkischen Südanatolien namens Göbekli Tepe gestoßen. Dort gibt es eine gigantische Ausgrabungsstätte, in der Archäologen anhand von Genen das Urkorn nachgewiesen haben. Sie sind sich sicher, dass unsere Vorfahren dort das erste Mal Getreide angebaut haben. Diese Stelle war also der Ursprung unserer Sesshaftigkeit. Es ist doch verrückt, dass man das auf einen Ort festlegen kann. Ich möchte unbedingt einmal nach Göbekli Tepe reisen.