Forscher entdecken eine Triebfeder der Zellbewegung
Setzt man eine Zelle auf einen ebenen Untergrund, dann bleibt sie nicht reglos liegen, sondern sie setzt sich in Bewegung. Das beobachtete bereits im Jahr 1967 der britische Zellbiologe Michael Abercrombie bei Zellen des Bindegewebes. Seitdem versuchen Forscher zu verstehen, wie Zellen dies bewerkstelligen. Bekannt ist: Zellen bilden „Scheinfüßchen“, also Ausstülpungen, die kontinuierlich auswachsen und sich zurückziehen. Damit halten sie sich am Boden fest und ziehen sich vorwärts. Die Richtung, in die sich eine Zelle bewegt, wird in der Regel von chemischen Lockstoffen bestimmt, die von anderen Zellen produziert und abgesondert werden. Wenn solche externen Signale fehlen – wie bei den von Abercrombie beobachteten Zellen – begeben sich Zellen auf die Suche. Hierbei verwenden sie Suchmuster, die sich ähnlich auch bei Haien, Bienen oder Hunden beobachten lassen. Sie bewegen sich ein Stück in eine Richtung, bleiben stehen, bewegen sich eine Weile auf der Stelle und wandern in eine andere Richtung weiter. Aber wie schaffen Zellen es, ihre Bewegungsrichtung über einen längeren Zeitraum beizubehalten?
Forscherinnen und Forscher des Exzellenzclusters „Cells in Motion“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) haben jetzt einen Baustein der Antwort auf diese Frage entschlüsselt. Sie entdeckten, dass Krümmungen der Zellmembran der Geburtspunkt für einen Bewegungskreislauf sind: Durch mechanische Kräfte, die die Krümmung der Zellmembran bewirken, versammeln sich bestimmte Proteine, die diese Geometrie erkennen. Diese Proteine wiederum ermöglichen es der Zelle, Scheinfüßchen zu bilden, die sich beim Zurückziehen wieder krümmen. „Am Ansatz der Krümmung ist der Punkt für das Auswachsen des nächsten Scheinfüßchens bereits vorgegeben. Auf diese Weise reaktiviert sich der Mechanismus ständig selbst“, erklärt der Biologe Dr. Milos Galic, Nachwuchsgruppenleiter am Exzellenzcluster und Leiter der Studie. Wenn externe Signale fehlen, tritt eine Zelle somit nicht auf der Stelle, sondern kann sich über längere Distanz in eine Richtung bewegen und ihre Umgebung effizient absuchen. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „Nature Physics“ erschienen.
Methoden und weitere Ergebnisse
Ausgangspunkt für die Studie war eine überraschende Beobachtung bei der Analyse mikroskopischer Bilder: Die Forscher untersuchten, wie Zellen Scheinfüßchen bildeten und sich Zellbewegung und Zellform daraufhin veränderten. Dabei entdeckten sie, dass die Scheinfüßchen in ganz unterschiedlichen Größen und mit ganz unterschiedlicher Lebensdauer auswuchsen. „Wir konnten in den Daten keine eindeutigen wiederkehrenden Muster beim Auswachsen und Zurückziehen der Scheinfüßchen erkennen“, sagt die Biologin Dr. Isabell Begemann, die die Studie als Erstautorin und im Rahmen ihrer Doktorarbeit durchführte. Was die Forscher aber sehen konnten und was auch andere Arbeitsgruppen bereits beobachtet hatten: Neue Scheinfüßchen entstanden immer dort, wo sich die Zellmembran stark krümmte. Die Forscher vermuteten deshalb, dass es ein mit diesen Krümmungen zusammenhängender Mechanismus sein muss, der es einer Zelle ermöglicht, die kontinuierlichen Bewegungszyklen auszuüben und sich somit fortzubewegen.
Um dieser Idee auf den Grund zu gehen, arbeiteten Biologen, Biochemiker und Physiker eng zusammen. Sie entwickelten zunächst Biosensoren, um die gekrümmten Stellen der Zellmembran markieren und mit hochauflösender Mikroskopie sichtbar machen zu können. Dazu verbanden sie fluoreszierende Moleküle mit sogenannten IBAR-Domänen. Dies sind bananenförmige Bestandteile von Proteinen, die sich mit ihrer positiv geladen Seite an die negativ geladene Zellmembran binden – allerdings nur dann, wenn die Membran gekrümmt ist. Mithilfe dieser Biosensoren konnten die Forscher nachweisen: Durch die Krümmung der Zellmembran, die beim Zurückziehen des Scheinfüßchens entsteht, lagern sich die krümmungssensitiven Proteine dort an. Diese Proteine wiederum regulieren dann Kräfte in der Zelle, durch die die Zelle das Protein Aktin lokal anreichert, was zum erneuten Auswachsen der Scheinfüßchen führt. In einem weiteren Schritt entwickelten die Forscher ein mathematisches Modell, mit dem sie den Mechanismus beschreiben, am Computer simulieren und dabei einzelne Parameter verändern konnten. Vergleiche der Vorhersagen durch das mathematische Modell mit der Analyse der Bilddaten aus dem Labor bestätigten die bisherigen Ergebnisse.
Die Forscher untersuchten den Bewegungsmechanismus in Zellkulturmodellen, beispielsweise bei Zellen des Bindegewebes der Maus und bei menschlichen Blutgefäßzellen aus der Nabelschnur, aber auch bei menschlichen Immunzellen – also einer Zellart, die sich im Organismus tatsächlich frei bewegt. Schließlich wollten die Forscher noch wissen, welche Auswirkungen der von ihnen entdeckte Mechanismus auf das Bewegungsmuster einer Zelle hat. „Wir haben die IBAR-Proteine herunterreguliert und so das Selbstorganisationssystem der Zelle ‚gehackt‘“, sagt Milos Galic. Das Ergebnis: Fehlt der Mechanismus, schafft die Zelle es zwar immer noch, sich zu bewegen, aber die Zeit, in der sie geradeaus läuft, ist deutlich kürzer. Parallel zu dem Mechanismus greifen natürlich noch weitere Maschinerien, dennoch hat er deutlichen Einfluss auf das Bewegungsmuster einer Zelle. Die Ergebnisse der Studie könnten zukünftig dazu beitragen, weitere grundlegende Fragen zu Vorgängen in Organismen zu beantworten, in die freibewegliche Zellen involviert sind.
Förderung
Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung durch den Exzellenzcluster „Cells in Motion“ der Universität Münster, durch zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Sonderforschungsbereiche – den SFB 1348 „Dynamische zelluläre Grenzflächen: Bildung und Funktion“ der Universität Münster und den SFB 994 „Physiologie und Dynamik zellulärer Mikrokompartimente“ der Universität Osnabrück – sowie durch die Medizinische Fakultät der Universität Münster.
Links zu dieser Meldung
- Originalpublikation: Begemann I, Saha T, Lamparter L, Rathmann I, Grill D, Golbach L, Rasch C, Keller U, Trappmann B, Matis M, Gerke V, Klingauf J, Galic M. Mechanochemical self-organization determines search pattern in migratory cells. Nature Physics; epub: 6 May 2019. DOI: 10.1038/s41567-019-0505-9.
- Arbeitsgruppe Dr. Milos Galic – Zellkräfte auf der Nanoskala
- WWU-Forschungsschwerpunkt „Zelldynamik in Homöostase, Entzündung und Infektion“