Signale, die Zellen durch den Körper leiten
Jedem einzelnen Vorgang im Körper liegen Wechselwirkungen von verschiedenen Molekülen und Zellen zugrunde. Chemokine zum Beispiel sind kleine Signalmoleküle, die von Zellen produziert werden und so das Verhalten anderer Zellen kontrollieren können. Unter anderem sind sie dafür verantwortlich, Immunzellen aus dem Blut ins Gewebe zu leiten, um Krankheitserreger zu bekämpfen. Auch, wenn sich ein Organismus entwickelt, spielen Chemokine eine wichtige Rolle – zum Beispiel, wenn sich Organe und Gewebe bilden. Um die dazu nötigen Signalwege in Gang zu setzen, binden Chemokine immer an ein Protein auf einer anderen Zelle, den sogenannten Chemokinrezeptor. Das Besondere: Ein und derselbe Rezeptor kann verschiedene Reaktionen in unterschiedlichen Zellarten auslösen – sowohl im gesunden als auch im kranken Organismus. In einem Zelltyp kann er zum Beispiel das Zellwachstum anregen, in einem anderen jedoch das Wachstum blockieren. Bisher war nicht klar, welcher Mechanismus dahintersteckt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters „Cells in Motion“ der Universität Münster haben nun gemeinsam mit Kollegen der Universität Washington entdeckt, dass verschiedene Chemokinrezeptoren nach der Aktivierung immer das gleiche Signal aussenden – und dass die Antwort auf dieses Signal davon abhängig ist, welcher Zelltyp das Signal empfängt. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass unterschiedliche Zelltypen bestimmte Moleküle hervorbringen, die dafür verantwortlich sind, das Signal zu interpretieren. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „eLife“ erschienen.
Die Geschichte im Detail:
Die Biologen um Prof. Dr. Erez Raz untersuchten, wie vier verschiedene Chemokinrezeptoren unterschiedliche Prozesse während der Entwicklung regulieren. Dazu sahen sich die Forscher zunächst sogenannte Urkeimzellen in lebenden Zebrafischembryonen an. Urkeimzellen wandern im Embryo vom Ort ihrer Entstehung zu den Geschlechtsorganen, wo sie zu Spermien und Eizellen werden sollen – geleitet werden sie bei dieser Wanderung von Chemokinen, die wiederum Signale der Chemokinrezeptoren hervorrufen.
Die Forscher nahmen zunächst zwei Chemokinrezeptoren namens Cxcr4a und Cxcr4b unter die Lupe. Um herauszufinden, ob sich die Signale dieser Chemokinrezeptoren unterscheiden, veränderten die Wissenschaftler die Zellen genetisch und „schalteten“ so den Rezeptor Cxcr4b aus, der normalerweise dafür sorgt, dass Urkeimzellen zum richtigen Ort wandern. Um zu untersuchen, ob stattdessen der Rezeptor Cxcr4a ebenfalls als „Lotse“ bei der Zellwanderung fungieren kann, beobachteten die Wissenschaftler mithilfe der Konfokalmikroskopie die Verteilung der Zellen in frühen Embryonen. Das Ergebnis: Nachdem sie den Rezeptor Cxcr4b ausgeschaltet hatten, war zu sehen, dass sich die Zellen nun nicht mehr zielgerichtet, sondern eher zufällig innerhalb des Embryos verteilten. Brachten die Forscher jedoch den Rezeptor Cxcr4a anstelle von Cxcr4b in die Urkeimzellen ein, wanderten die Zellen genau zu den Orten im Embryo, an denen ihr Lockstoff, also das an den Rezeptor bindende Chemokin, vorkam. „Das bedeutet, dass ein Chemokin und sein Rezeptor fähig sind, Urkeimzellen zu leiten, auch wenn sie normalerweise nicht in diesen Prozess involviert sind“, sagt Dr. Divyanshu Malhotra, Erstautorin der Studie und ehemalige Doktorandin der Graduiertenschule des Exzellenzclusters.
Die Erkenntnis, dass verschiedene Rezeptoren denselben Prozess steuern können, bestätigten die Forscher auch in einem anderen Vorgang während der embryonalen Entwicklung, für den umgekehrt normalerweise der Rezeptor Cxcr4a verantwortlich ist. In diesem Prozess müssen sich verschiedene Gewebe korrekt anordnen, sodass sich daraus später Organe entwickeln können. Die Forscher fanden heraus, dass hier der Rezeptor Cxcr4b auf die gleiche Art „einspringen“ und die erforderlichen Signale aussenden konnte. Zwei weitere Rezeptoren mit einer anderen Struktur – Ccr9 und Ccr7 – waren im selben Prozess ebenfalls in der Lage, die Funktion von Cxcr4a zu übernehmen.
Aus ihren Ergebnissen schlossen die Wissenschaftler, dass verschiedene Rezeptoren, wenn sie aktiviert werden, das gleiche Signal liefern – genau anders als es bisher angenommen worden war. Dieses Prinzip zeigte sich auch in weiteren Experimenten und in anderen biologischen Prozessen, was darauf hindeutet, dass verschiedene Zelltypen das entsprechende Signal unterschiedlich interpretieren. Die Wissenschaftler gaben den hierfür verantwortlichen Molekülen bereits einen Namen: Chemokinrezeptor-Signal-Interpretations-Module (CRIM). „Unsere Ergebnisse erklären, wie eine relativ kleine Gruppe von Molekülen ein derart breites Spektrum von Prozessen kontrollieren kann“, sagt Divyanshu Malhotra.
Da Chemokinrezeptoren nicht nur bei der Entwicklung, sondern auch bei vielen klinisch relevanten Prozessen eine Schlüsselrolle spielen, kann die Erkenntnis, dass verschiedene Rezeptoren dasselbe Signal erzeugen, später Auswirkungen auf die Entwicklung von Therapien haben. „Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn Medikamente entwickelt werden, die sich gegen einen bestimmten Rezeptor richten oder gegen Proteine, die durch ihn aktiviert werden. Man muss beachten, dass diese dann auch einen starken Effekt auf andere Prozesse haben können, die von Chemokinrezeptoren reguliert werden“, sagt Divyanshu Malhotra.
In einem nächsten Schritt möchten die Forscher die molekulare Struktur der Moleküle, die die Signale der Chemokinrezeptoren interpretieren, genauer untersuchen. Darüber hinaus wollen sie ihr Modell in anderen klinisch relevanten biologischen Prozessen testen, zum Beispiel während Abwehrreaktionen des Immunsystems.
Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung durch den Europäischen Forschungsrat, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Medizinische Fakultät der Universität Münster und des US-amerikanischen „National Instituts of Health“.
Originalpublikation:
Malhotra D, Shin J, Solnica-Krezel L, Raz E. Spatio-temporal regulation of concurrent developmental processes by generic signaling downstream of chemokine receptors. Elife 2018;7: epub. Abstract