Wie Adhäsionsmoleküle schädlichen T-Zellen den Weg über die Blut-Hirn-Schranke bahnen
Alles begann mit Zellen im Nervenwasser von Multiple-Sklerose (MS)-Patienten, die dort nicht hätten sein dürfen. Am Ende machten Neuroimmunologen und Molekularbiologen der Universität Münster eine Entdeckung, die das Verständnis und vielleicht sogar die Therapie der MS und anderer unheilbarer Autoimmunerkrankungen entscheidend verbessern könnte. Doch der Reihe nach:
Die Wissenschaftler unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie, untersuchten das Blut und Nervenwasser von Patienten, die mit einem hochwirksamen MS-Medikament, dem monoklonalen Antikörper Natalizumab, behandelt wurden. Dieses Medikament wirkt, indem es den zentralen Mechanismus der MS verhindert: das Einwandern schädlicher T-Zellen über die Blut-Hirn-Schranke ins Hirn. Dort schädigen sie das Hirngewebe. Der Wirkstoff Natalizumab unterbindet das Einwandern, indem er das very late antigen (VLA)-4 blockiert, das so etwas wie ein Schlüssel ist, mit dem die Zellen sonst die Blut-Hirn-Schranke aufschließen können. Ohne VLA-4 also keine schädlichen Zellen in Nervenwasser und Gehirn. So galt es zumindest vor der Entdeckung der Münsteraner.
„Wir waren also sehr überrascht, als wir im Liquor von Natalizumab-Patienten dennoch eine nennenswerte Zahl an T-Zellen fanden“, erklärt Co-Projektleiter Dr. Nicholas Schwab aus der Forschergruppe von Prof. Wiendl. Bei näherer Betrachtung zeigte sich: Auf den wenigen Zellen im Liquor von Natalizumab-Patienten fand sich tatsächlich kein VLA-4. „Das Medikament Natalizumab wirkt also so wie es soll. Aber was sind das für Zellen, die kein VLA-4 auf der Oberfläche tragen? Und wieso können sie ins zentrale Nervensystem eindringen?“, fragt Schwab.
Bei der Suche nach Antworten stießen Prof. Heinz Wiendl und sein Team auf das Adhäsionsmolekül MCAM. „Wir haben MCAM in ungewöhnlich hoher Zahl im Liquor von Patienten gefunden, die lange Zeit mit Natalizumab therapiert wurden“, erklärt Wiendl die zentrale Entdeckung. Das Molekül ist so etwas wie der Rettungsanker, mit dem die Zellen sich an die Blut-Hirn-Schranke heften.
Diese Wirkung von MCAM war bislang nicht bekannt, erklärt aber viele Beobachtungen der letzten Jahre in der Therapie von Patienten und in experimentellen Modellen. So war seit längerem bekannt, dass Patienten, die das Medikament Natalizumab absetzen, oft unter schweren MS-Schüben leiden. Die Ursachen dafür waren nicht vollständig geklärt. Jetzt glauben die Wissenschaftler um Prof. Wiendl, dass diese Schübe mit durch das Molekül MCAM verursacht werden könnten. Wird ein MS-Patient mit Natalizumab therapiert, so blockiert das Medikament ausschließlich VLA-4 und sorgt so dafür, dass die T-Helferzellen, die VLA-4 benötigen, keinen Schaden mehr im Zentralen Nervensystem anrichten können. Daher sind Patienten unter Therapie oft frei von Schüben und Behinderungsprogression. Aber auch während Natalizumab wirkt, können unbemerkt noch andere gefährliche T-Zellen ins ZNS eindringen: ebenjene, die das Molekül MCAM nutzen. Sie allein können in Gehirn und Rückenmark kaum Schaden anrichten. Doch nach Absetzen des hochwirksamen Präparats können die verschiedenen T-Zell-Arten gemeinsam umso stärker zuschlagen: „Dann sind nämlich die MCAM-Späherzellen schon an Ort und Stelle, wenn den restlichen T-Zellen der Schlüssel zum zentralen Nervensystem zurückgegeben wird“ erläutert Wiendl.
Um zu beweisen, dass MCAM den schädlichen Zellen einen Weg ins Nervenwasser bahnt, haben die Wissenschaftler gleichzeitig VLA-4 und MCAM im Versuch blockiert. „Dann war es überhaupt nicht mehr möglich, dass schädliche Zellen sich im zentralen Nervensystem anheften“, erklärt Schwab.
Ob sich dieses Vorgehen auch in die Praxis umsetzen lässt, ist schwer zu beurteilen. Schon jetzt kann das Medikament Natalizumab allein zu schweren Nebenwirkungen führen, weil es die Funktion des Immunsystems schwächt. Würden nun auch noch andere Moleküle, die die schützende Immunreaktion steuern, sozusagen „ausgeschaltet“, sind die Folgen für das Immunsystem noch nicht gut genug abzusehen. Gerade deshalb gilt es für die Wissenschaftler, ihre überraschende Erkenntnis näher zu untersuchen. Dabei kooperieren sie, wie schon bei den aktuellen Versuchen, mit Prof. Dr. med. Alexander Zarbock vom Max-Planck-Institut (MPI) für Molekulare Biomedizin Ihre interdisziplinäre Forschung wird im Rahmen der DFG-geförderten Sonderforschungsbereiche TR128 („Multiple Sclerosis“) und SFB 1009 („Breaking Barriers“) gefördert. Zudem ist das Projekt Bestandteil des Exzellenzclusters „Cells in Motion“ (CiM).
Das Molekül MCAM könnte auch ein Schlüssel zur Erklärung weiterer entzündliche Erkrankungen des Nervensystems sein. „Dabei handelt es sich um vermutlich Th17-vermittelte Erkrankungen wie zum Beispiel die Sehnerventzündung Neuromyelitis Optica, bei denen Natalizumab, wie wir wissen, nicht wirkt“, erklärt Dr. Tilman Schneider-Hohendorf, Erstautor des Aufsatzes zum Thema, der in der aktuellen Ausgabe des renommierten Journal of Experimental Medicine veröffentlicht wurde.
Publikation: Schneider-Hohendorf T, Rossaint J, Mohan H, Böning D, Breuer J, Kuhlmann T, Gross CC, Flanagan K, Sorokin L, Vestweber D, Zarbock A, Schwab N, Wiendl H. VLA-4 blockade promotes differential routes into human CNS involving PSGL-1 rolling of T cells and MCAM-adhesion of TH17 cells. J Exp Med. 2014 Aug 25;211(9):1833-46. doi: 10.1084/jem.20140540. Epub 2014 Aug 18.