Gianna Regenbrecht mit Selma bei den Versmolder Dressurtagen 2021.
Gianna Regenbrecht mit Selma bei den Versmolder Dressurtagen 2021.
© Cora Jennissen

„Ich möchte meine Grenzen immer weiter verschieben“

ProTalent-Stipendiatin Gianna Regenbrecht ist Para-Dressurreiterin

Dies ist eine aktualisierte Version des Textes aus dem alumni|förderer-Magazin der Universitätszeitung "wissen|leben", Ausgabe Wintersemester 2021/2022.

Artikel zum Download (ursprüngliche Version)

Autorin: Nora Kluck

Wenn die 27-jährige Medizinstudentin Gianna Regenbrecht vom Reiten spricht, spürt man ihre Begeisterung sogar durch das Telefon. „Ich sitze auf Pferden, seit ich denken kann“, erzählt sie. Ihr Großvater, der mit Pferden aufwuchs, hat sie mit seiner Begeisterung für die Tiere angesteckt. Im Jahr 2014, Gianna Regenbrecht war 20, veränderte ausgerechnet ein Pferd ihr Leben grundlegend. Bei einem Reitunfall zersplitterte ihr zweiter Lendenwirbel und durchlöcherte ihr Rückenmark. Seitdem kann sie nur noch wenige Muskeln in ihren Beinen ansteuern, „inkomplett querschnittsgelähmt“ lautet der Fachausdruck dafür. Der Unfall war es aber auch, der die Reiterin zum Leistungssport brachte – und zu ihrem ersten eigenen Pferd. Mit Fuchsstute Selma reitet die Studentin der Universität Münster im Bundesnachwuchskader der Para-Dressurreiter.
An den Unfall hat Gianna Regenbrecht keine Erinnerungen. „Ich erinnere mich verschwommen daran, wie ich auf dem Boden im Sand lag und meine Beine kribbelten“, berichtet sie. Im Krankenhaus fragte sie ihre Mutter, ob ihre Reitstiefel unversehrt seien. Die stünden unbeschädigt im Keller, war die Antwort. Sie selbst habe wohl am Unfallort die Sanitäter gebeten, die Stiefel nicht aufzuschneiden. „Das war für mich das Zeichen, dass ich wieder reiten werde.“ Ihre Rückkehr auf den Pferderücken hatte jedoch zunächst nichts mit Reitsport zu tun, sondern war Teil der Rehabilitation. Die sogenannte Hippotherapie bewirkt, dass die Schwingungsimpulse des Pferdes sich auf das Becken des Patienten übertragen und Bewegungsmuster im Gehirn reaktivieren.

„Ich hatte großartige Unterstützung“

Vor allem in den ersten beiden Jahren trainierte Gianna Regenbrecht verbissen, um im wahrsten Sinne des Wortes auf die Beine zu kommen; die Ärzte hatten ihr geraten, dieses Zeitfenster zu nutzen. Heute sitzt sie zwar im Rollstuhl, kann sich aber hinstellen und mit Gehstützen gehen. Um diese Fortschritte zu erhalten, ist weiterhin viel Training notwendig. Das Problem ist die fehlende Kraft. Im Wasser, wenn die Schwerkraft keine große Rolle spielt, kann sie sich gut bewegen. „Ich hatte und habe großartige Unterstützung von meiner Familie und meinen Freunden“, berichtet die Studentin. Im Alltag kommt sie gut zurecht. Sie fährt ein Auto mit Handgas und weiß, wie sie ihren Rollstuhl darin am besten verstaut. Sie wohnt mit ihrem Freund in Münster. Zugleich versucht sie immer wieder, an ihre Grenzen zu gehen und sich neue Ziele zu stecken. Mit ihrem Freund reiste sie im Februar 2019 drei Wochen lang mit Rucksack durch Kambodscha. „Einiges hat etwas länger gedauert, aber es hat trotz des Rollstuhls funktioniert“, erzählt sie. „Auch, weil die Leute dort sehr hilfsbereit waren.“ Vom Sport und von ihrem Alltag berichtet sie auf Instagram: „Ich möchte andere Betroffene dazu inspirieren, die persönlichen Grenzen immer ein Stückchen weiter zu verschieben.“
Auf dem Weg in ihr neues Leben war und ist das Reiten der Dreh- und Angelpunkt für Gianna Regenbrecht. Von der Hippotherapie wechselte sie wieder in den Sattel. „Das hat natürlich gedauert. Ich konnte ab dem Bauchnabel die Muskeln nicht mehr ansteuern. Das war ein wackeliges Gefühl, wie auf einem Pezziball zu sitzen und dabei die Füße nicht auf dem Boden stehen zu haben.“ Das Training zahlte sich aus. Sie lernte, das Pferd über das Becken und die Oberkörperspannung zu steuern. Statt der Beine benutzt sie zwei Reitgerten, die sie direkt hinter ihren Waden an den Pferdebauch anlegt und mit denen sie dem Pferd Signale gibt. Durch Kraft überzeugen kann sie ein Pferd allerdings nicht.
Kontakte führten dazu, dass eines Tages Rolf Grebe, Bundestrainer der Para-Reiter, am Reitplatz stand und die Studentin zum Sichtungslehrgang der Para-Dressurreiter einlud. Die Anfänge bestritt sie mit Norwegerpony „My little Hero“ ihrer Trainerin Claudia Mense. Sie ist es auch, die die Reiterin bis heute begleitet, zusammen mit Trainerin Gisa Lehmann. Mit „My little Hero“ nahm Gianna Regenbrecht an ihrem ersten Turnier teil. Danach war klar, dass sie wieder in den Sport einsteigen will – und dafür musste ein Großpferd her. So kam sie mit Selma zusammen, die viel jünger, größer und unerfahrener war als geplant. „Aber wir passten einfach zusammen.“ Heute sind die beiden ein eingespieltes Team und gehören seit 2019 zum Bundesnachwuchskader der Para-Dressurreiter.

„Selma und ich haben uns viel erarbeitet“

Seit November 2021 ist Selma am Olympia-Bundesstützpunkt des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei (DOKR) untergebracht, der hervorragende Trainingsmöglichkeiten bietet. Gianna Regenbrecht ist amtierende deutsche Vize-Meisterin im Para-Dressurreiten und schneidet bei internationalen Turnieren gut ab. Ihr Ziel sind die Paralympics 2024. Doch dazu benötigt sie ein anderes Pferd. „Selma ist ein Allrounder“, erläutert die Reiterin. „Ich kann mit ihr vieles machen, ob Dressur reiten oder im Gelände spazieren reiten. Aber um an die Weltspitze zu kommen, hat sie nicht genug ‚Bewegungsqualität‘, wie man im Reitsport sagt. Wir haben uns gemeinsam viel erarbeitet und sie hat mich in einer schwierigen Zeit meines Lebens begleitet, wofür ich sehr dankbar bin. Langsam kommen wir in der Dressur an ihre körperlichen Grenzen, und deswegen muss ich genau aufpassen, was ich ihr zumute. Ich möchte sie nicht überfordern, damit sie ihre Freude nicht verliert.“ Seit dem Sommer bildet sie daher zusammen mit ihren Trainerinnen das fünfjährige Nachwuchspferd Ben, einen Hannoveraner Wallach, aus.
„Ein junges Pferd für den Para-Sport auszubilden ist immer spannend. Para-Pferde müssen mitdenken und sind daher köperlich und geistig gefordert“, berichtet Gianna Regenbrecht. „Bis jetzt meistert Ben die Aufgaben sehr vorbildlich und ich freue mich auf die Zukunft mit ihm.“ Die Finanzierung solcher Projekte im Para-Sport, zumal im Nachwuchsbereich, ist nicht einfach. Sponsoren halten sich zurück, da der Sport, wie viele andere kleinere Sportarten, wenig Beachtung findet. Um auf den Para-Sport aufmerksam zu machen, hat Gianna Regenbrecht die Zeit im Sommer genutzt, in der die Paralympics im Fokus der Öffentlichkeit standen. Sie hat Interviews gegeben, einen Artikel für eine Kinderzeitschrift geschrieben, bei den Fernsehkommentaren zur Para-Dressur mitgewirkt und auf Instagram über die Spiele berichtet.
Neben den Paralympics hat die Studentin ein berufliches Ziel: Sie möchte als Ärztin mit Querschnittsgelähmten arbeiten. Nach dem Abitur wollte sie Tierärztin für Groß- und Nutztiere werden. Um die Wartesemester zu überbrücken, begann sie eine Ausbildung zur Tierarzthelferin. „Schon im Krankenhaus nach dem Unfall war mir klar, dass ich nicht über Kuhweiden marschieren würde“, erzählt sie. Die neue Perspektive eröffnete sich ebenfalls im Krankenhaus: Einer der Ärzte saß im Rollstuhl. Er hatte in Münster studiert. Gianna Regenbrecht schwenkte um auf Humanmedizin und bewarb sich zum Sommersemester 2016 mit einem Härtefallantrag an der WWU. „Ich habe sofort einen Studienplatz bekommen. Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Heute ist ihr Leben eng getaktet, um Studium, Therapie und Leistungssport miteinander zu vereinbaren. Doch nichts von all dem möchte sie missen. „Wenn ich mal eine Woche lang nicht reite, merke ich das sofort. Wenn ich länger darauf verzichten muss, liege ich mit Nervenschmerzen im Bett.“

„Ohne ProTalent könnte ich nicht auf diesem Niveau trainieren“

Besonders dankbar ist Gianna Regenbrecht für die große Unterstützung, die die Westfälische Wilhelms-Universität (WWU) Münster ihr bietet. Als Partnerhochschule des Spitzensports nimmt die Universität Rücksicht auf die Belange der Leistungssportler. Wenn es terminlich eng wird, weil Klausuren und Turniere kollidieren, hat Gianna Regenbrecht Ansprechpartner, an die sie sich jederzeit wenden kann. Zudem profitiert sie vom WWU-Stipendienprogramm ProTalent. Bei dieser Förderung spenden private Förderer ein Stipendium in Höhe von 1.800 Euro pro Jahr. Der Bund verdoppelt den Betrag im Rahmen des Deutschlandstipendiums. Gianna Regenbrechts Stipendiengeber ist die Sportstiftung NRW, die im aktuellen Förderjahr insgesamt sechs ProTalent-Stipendien an Mitglieder der olympischen und paralympischen Bundeskader vergibt. „Ohne ProTalent könnte ich mir die gute Unterbringung von Selma nicht leisten“, sagt die Reiterin. „Dann müsste ich Selma kostengünstiger auf einem Bauernhof unterbringen und könnte im Winter gar nicht trainieren. Denn auf dem Weg zur nächsten Reithalle würden meine Beine zu kalt, um anschließend auf das Pferd aufzusteigen. Trainieren auf diesem Niveau kann ich nur dank ProTalent.“
Die Unterstützung, die sie von vielen Seiten erhalten hat, möchte die Studentin später in ihrer Tätigkeit als Ärztin zurückgeben. „Ich kenne die Probleme von Querschnittsgelähmten, auch Kleinigkeiten sind mir bewusst“, erläutert sie. „Ich möchte auch dem Umfeld der Patienten die Umstellung erleichtern und weitergeben, wovon ich selbst profitiert habe. Wenn es nur einen Patienten gibt, der so gut wieder in den Alltag findet wie ich – dann habe ich mein Ziel erreicht.“

Das WWU-Stipendienprogramm ProTalent

ProTalent fördert besonders leistungsstarke und sozial engagierte Studierende an der Universität Münster und berücksichtigt zudem besondere persönliche und familiäre Lebensumstände. Die Stipendien werden im Rahmen des Deutschlandstipendiums je zur Hälfte von privaten Spendern und vom Bund getragen. Wenn auch Sie Nachwuchstalente an der WWU Münster mit ProTalent-Stipendien unterstützen möchten, wenden Sie sich gerne an Projektkoordinatorin Stephanie Elias, E-Mail: stephanie.elias@uni-muenster.de, Tel. 0251 83-22467.

Der Alumni-Club WWU Münster unterstützt ProTalent seit vielen Jahren mithilfe der Spenden seiner Mitglieder. Wie auch Sie begabte Studierende fördern können, erfahren Sie hier.