Nachhaltige Plastikalternative aus Getreideresten
Von Nora Kluck
Schnell sind im Supermarkt einige Tomaten in einem der dünnen Plastikbeutel verpackt. Dank des Beutels überstehen sie den Weg in die heimische Küche unbeschadet. Dort wird der eben noch nützliche Plastikbeutel zu Abfall – ähnlich wie ein großer Teil der über 400 Millionen Tonnen Kunststoff, die jährlich weltweit hergestellt werden. Wie es mit den Abfällen weitergeht, ist jedoch ein Problem für Mensch und Umwelt. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden weltweit nur 15 Prozent der Kunststoffabfälle für das Recycling gesammelt. 46 Prozent landen auf Deponien, auf denen sie das Grundwasser schädigen und Tieren schaden können. 17 Prozent werden verbrannt, was wiederum das Treibhausgas CO2 freisetzt. 22 Prozent geraten unkontrolliert in die Landschaft und die Meere, wo Tiere an Plastikteilen ersticken und Mikroplastik in die Nahrungskette gelangt. Der große Plastikmüllstrudel im Pazifischen Ozean ist längst zu einem ikonischen Bild geworden.
Nicht weniger als die Lösung dieses globalen Problems der Kunststoffverschmutzung ist das Ziel von WWU-Alumna Johanna Baare, einer Unternehmensberaterin und Psychologin, und von Verfahrensingenieurin Dr. Anne Lamp. Im September 2020 gründeten sie in Hamburg das Start-Up traceless materials, das inzwischen 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. „Traceless“ – also spurlos – ist der bernsteinfarbene Werkstoff, den die 31-jährige Anne Lamp entwickelt hat. Er wird aus Resten der Getreideverarbeitung hergestellt. Innerhalb weniger Wochen kann er ohne Rückstände natürlich kompostiert werden. Diese Idee hat auch die Jury des Deutschen Gründerpreises überzeugt; sie zeichnete die beiden Gründerinnen im September mit dem Preis in der Kategorie „Start-up“ aus.
Kennengelernt haben sich Johanna Baare und Anne Lamp beim Berliner „ProjectTogether“. Es bringt Menschen mit Ideen mit Menschen zusammen, die Unternehmenserfahrung haben. „Bei der Erfindung von Anne war mir sofort klar: Das muss auf den Markt“, berichtet Johanna Baare. Was das Besondere an dem Material ist? „Es ist ganzheitlich nachhaltig. Es steht nicht in Konkurrenz zu Lebensmitteln, der Ressourcenverbrauch ist gering. Zudem verwenden wir kein Erdöl und keine Chemikalien, die die Gesundheit oder die Umwelt belasten.“
Diese sogenannte „zweite Generation Biomasse“ bringt genau die Funktionen mit, die Kunststoff so attraktiv machen: Das Material ist fett- und wasserabweisend und kann mit den in der Industrie bereits vorhandenen Maschinen wie Plastik verarbeitet werden. Damit viele verschiedene Produkte daraus entstehen können, stellt traceless es als Biogranulat her.
„Die Industrie hat großes Interesse daran“, berichtet Johanna Baare. „Wir arbeiten zum Beispiel mit dem Versandhändler Otto und der Lufthansa in Pilotprojekten für Verpackungen zusammen.“ Um die hohe Nachfrage bedienen und einen wettbewerbsfähigen Preis erzielen zu können, ist derzeit die Erweiterung der Produktion vom Pilotmaßstab am Unternehmensstandort Buchholz, südlich von Hamburg, auf einen industriellen Maßstab die wichtigste Aufgabe. Dazu sucht das Unternehmen Investoren für eine größere Produktionsanlage. In vergangenen Finanzierungsrunden war das Unternehmen sehr erfolgreich. So erhielt es 2021 unter anderem eine EU-Förderung in Höhe von 2,42 Millionen Euro. Auch über weitere Preise kann sich das Team freuen. 2021 wurde traceless als meistprämiertes deutsches Start-up ausgezeichnet – als erstes rein weiblich geführtes Unternehmen.
Das Interesse daran, ein Unternehmen aufzubauen und weiterzuentwickeln, entdeckte Johanna Baare in ihrem Psychologie-Studium an der WWU, das sie 2012 mit dem Bachelor abschloss. In dieser Zeit begeisterte sie sich für die Arbeits- und Organisationspsychologie. In Madrid verbrachte sie ein Auslandssemester und absolvierte dort ein Praktikum bei einer Strategieberatung, ihrem späteren Arbeitgeber. Für diese leitete sie bald das Team in Deutschland. „In dieser Zeit habe ich das Wachstum der Firma von zwölf auf 100 Mitarbeiter begleitet“, berichtet die 33-Jährige. „Daher habe ich Erfahrung damit, Prozesse und Strukturen hochzuskalieren.“ Dieses Wissen baute sie mit dem Studium zum Master of Business Administration an der IE Business School in Madrid aus. Anschließend stieg sie in ein soziales Start-up ein, das jedoch aufgrund der Corona-Pandemie in Schwierigkeiten geriet. Kurz danach machte sie die Bekanntschaft von Anne Lamp, und traceless wurde aus der Taufe gehoben.
Als Chief Operating Officer (COO) deckt die Psychologin verschiedene Aufgabengebiete ab. Finanzen, Strategie und Unternehmensentwicklung gehören ebenso zu ihrem Alltag wie juristische und administrative Fragen. Auch die Personalgewinnung ist ihr Bereich – das junge Unternehmen sucht ständig weitere Mitarbeiter, die vor allem technischen Sachverstand mitbringen sollten.
Wenn sie nach einem Rat für gründungsinteressierte Studierende gefragt wird, zögert Johanna Baare nicht lange. „Nicht warten, sondern machen. Man sollte sich Unterstützung suchen und das Gründungsprogramm der eigenen Uni nutzen, sich zusammentun. Es ist wichtig, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in der Schublade verschwinden, sondern auf den Markt kommen.“
An ihre Zeit an der WWU denkt die gebürtige Münsteranerin gerne zurück. „Bis heute treffe ich mich regelmäßig mit einer Gruppe von Freundinnen, die ich schon in der O-Woche kennengelernt habe. Das ist die schönste Erinnerung für mich.“
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 12. Oktober 2022.