Forschungsteam um Kirchenhistoriker Hubert Wolf untersucht Bittschreiben von Juden an Papst Pius XII. während der NS-Zeit

Rund 15.000 jüdische Menschen wandten sich während der NS-Zeit voller Verzweiflung per Brief an Papst Pius XII. Forscherinnen und Forscher der Universität Münster haben Ende März in Rom den 84-jährigen Sohn einer damaligen Bittschreiberin getroffen, ihm den Brief seiner Mutter überreicht und mit Papst Franziskus über das Projekt „Asking the Pope for help“ gesprochen.

Der Kummer und die Not lassen sich in jeder Zeile deutlich erkennen, als sich Hildegard Jacobi am 9. April 1940 mit einem anderthalbseitigen Brief an Papst Pius XII. wendet. „Eure Heiligkeit“, schreibt sie in perfekter Schönschrift, „ich bin vor fast zwei Jahren mit meinen Eltern nach Rom gekommen, da wir als Nichtarier gezwungen waren, Deutschland zu verlassen.“ Sie sei von Beruf Schneiderin, der Vater ihres neun Monate alten Jungen – „ein deutscher Ingenieur und Katholik“ – habe ihr die Ehe versprochen, sei aber in Rom „an uns zum Verbrecher geworden“ und habe sie ihrem Schicksal überlassen. „Es ist mir unmöglich, alles allein zu bestreiten, ich wiederhole deshalb meine herzliche Bitte um Hilfe.“


Sie habe bei ihrer Flucht aus Deutschland nur zehn Reichsmark mitnehmen dürfen. „Wir wissen oftmals nicht“, fügt sie hinzu, „woher wir die Mittel zum Weiterkommen nehmen sollen.“ Ihre verzweifelte Bitte wird erhört. Der Heilige Stuhl erweist sich als großzügig und lässt Hildegard Jacobi 350 Lire zukommen. Immerhin. Das Geld reicht, um ihren Sohn, ihre Eltern und sich selbst etwa einen Monat über Wasser zu halten.

Fotos

Nach der Audienz bei Papst Franziskus zeigt Ilan Jacobi (r.) das Foto, das ihm das Kirchenoberhaupt geschenkt hat - Hubert Wolf hatte dem Papst zuvor das Projekt Asking the Pope for help erläutert.
Nach der Audienz bei Papst Franziskus zeigt Ilan Jacobi (r.) das Foto, das ihm das Kirchenoberhaupt geschenkt hat - Hubert Wolf hatte dem Papst zuvor das Projekt Asking the Pope for help erläutert.
© Uni MS – N. Robers
  • Einen Vormittag lang arbeiteten Dr. Elisabeth Richter (v.l.n.r.), Dr. Sascha Hinkel und Dr. Judith Schepers im Jesuitenarchiv, in dem unter anderem die Unterlagen zum Beichtvater Benito Mussolinis, Tacchi Venturi, verwahrt werden.
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  • Im Vatikanischen Archiv liest Ilan Jacobi erstmals den Brief, den seine Mutter vor 83 Jahren Papst Pius XII. geschrieben hat - an seiner Seite der Präfekt des Archivs, Kurienbischof Sergio Pagano, und der Kirchenhistoriker der Universität Münster, Prof. Dr. Hubert Wolf.
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  • Jeden Tag besprach das Projektteam der Universität Münster die Arbeit in den Archiven und die nächsten Arbeitsschritte.
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  • Papst Franziskus begrüßt auch einige Militärs auf dem Petersplatz.
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An diesem Mittwochvormittag, also fast 83 Jahre später, sitzt Ilan Jacobi in einem Vorraum des „Apostolischen Vatikanischen Archivs“ (AAV), das bis 2019 „Vatikanisches Geheimarchiv“ hieß, und liest den Brief seiner Mutter vor. Mit leiser Stimme. Zeile für Zeile. „Das ist ein großer Moment für mich“, betont er, als er an der Seite des Kirchenhistorikers der Universität Münster, Prof. Dr. Hubert Wolf, den Hüter und Präfekten des Archivs, Kurienbischof Sergio Pagano, begrüßt. Aus seiner Sakkotasche holt Ilan Jacobi, der am Vorabend aus Tel Aviv angereist ist, ein Schriftstück seiner 1979 verstorbenen Mutter und legt es neben den Brief an den damaligen Papst. „Sehen Sie doch, es ist wirklich die Handschrift meiner Mutter“, sagt er – als ob er einen Beweis für die Authentizität des Briefs von 1940 liefern müsste. „Meine Mutter ist zum katholischen Glauben übergetreten? Das wusste ich nicht. Und ich war damals ebenfalls Katholik? Das wusste ich auch nicht. Aber das hat uns alle wahrscheinlich gerettet. Mein Vater soll uns sitzen gelassen haben? Nein, das ist nicht wahr.“ Nach zehn Minuten legt Ilan Jacobi den Brief zur Seite. „Ich muss jetzt etwas durchatmen.“ Man sieht es ihm an, wie sehr ihn die bislang unbekannten Zeilen seiner Mutter berühren. Der Brief hat Ilan Jacobis Lebensgeschichte in Teilen auf den Kopf gestellt – in nur zehn Minuten.

Wir wussten, dass es solche Schreiben gegeben hat, aber wir hatten keine Ahnung davon, wie viele es sein würden und wie offen und ergreifend sie waren.
Hubert Wolf

Dieser Vormittag ist auch für Hubert Wolf und sein sechsköpfiges Team aus Münster von großer Bedeutung. Nachdem Papst Franziskus verfügt hatte, die Akten des von 1939 bis 1958 währenden Pontifikats Pius‘ XII. der Wissenschaft ab dem 2. März 2020 zur Verfügung zu stellen, waren sie gleich am zweiten Tag ihrer Aktenrecherche im AAV auf zig derartiger Bittbriefe wie dem vom Hildegard Jacobi gestoßen. „Wir wussten, dass es solche Schreiben gegeben hat“, erläutert Hubert Wolf, „aber wir hatten keine Ahnung davon, wie viele es sein würden und wie offen und ergreifend sie waren.“ Mittlerweile steht fest: Rund 15.000 jüdische Menschen aus ganz Europa wandten sich während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in der Hoffnung auf Hilfe an Papst Pius XII. – mal baten sie um Geld, mal um ein Visum, um Unterstützung für eine Schiffspassage oder um Hilfe für ihre Flucht. Es liegt auf der Hand, dass es den Wissenschaftlern nur sehr selten gelingen wird, einen der Nachfahren der damaligen Briefschreiber eindeutig zu identifizieren, zu finden und ihnen – wie an diesem Vormittag im Fall Ilan Jacobis – den Brief ihrer Vorfahren im Vatikanischen Archiv zu übergeben. „Diese Briefe sind für uns als Theologen und Historiker ein wissenschaftliches Geschenk“, unterstreicht Hubert Wolf. „Wir geben aber vor allem den Briefschreibern und deren Nachfahren einen bedeutsamen Teil ihres Lebens zurück – und deswegen sind auch wir sehr glücklich, dass Ilan Jacobi dies heute erleben darf.“


Für den gebürtigen Römer Ilan Jacobi, der bis zu seiner Beschneidung im Alter von neun Jahren Claudio Jacobi hieß, sind die Tage in der italienischen Hauptstadt emotional schwer erträglich. Und gleichzeitig erhellend und befreiend. Noch bevor er den Brief zu lesen bekommt, nimmt er an einer Audienz mit Papst Franziskus teil. Mit Hubert Wolf sitzt er gegen 10 Uhr morgens auf einem Stuhl in der ersten Reihe unmittelbar vor dem Dom und damit weit entfernt von den Menschenmassen auf dem Petersplatz. Als der Papst, im Rollstuhl sitzend, vor den beiden anhält, erläutert Hubert Wolf ihm in wenigen Sätzen und auf Deutsch das Projekt „Asking the Pope for help“ und stellt ihm Ilan Jacobi vor, der auch mit Hilfe der katholischen Kirche den Holocaust überlebt habe. Ilan Jacobi übergibt dem Papst einen Brief und sein Buch, in dem er sein Leben schildert. Immerhin zwei Minuten sprechen die beiden miteinander. „Ich bin stolz und glücklich über dieses Treffen“, betont der 84-Jährige, als er wenigen Minuten später wieder im Auto sitzt.

Auch jetzt erinnert er sich wieder. Als seine Mutter Hildegard und deren Eltern am 16. Oktober 1943 von der Ghetto-Räumung in Rom hörten, flohen sie noch in der Nacht nach Torpignattara, einer Vorstadt Roms. Im Kloster der Schwestern „Unserer Lieben Frau von Namur“ in der Via Francesco Paciotti fanden sie Zuflucht – der kleine Claudio blieb bis April 1944 im Kindergarten des Konvents. In der Folgezeit kam es immer wieder zu gefährlichen Situationen, jederzeit drohte die Enttarnung. Bei einer Razzia durch die Nazis im Kloster entging er knapp der Verhaftung, indem er – wie seine Mutter ihm eingebläut hatte – kein deutsches Wort sagte und auch das von den Soldaten begonnene hebräische Gebet nicht weiter aufsagte. Die Familie überlebte. Nicht zuletzt, weil Hildegard Jacobi angesichts der Not als vermeintlicher Schweizer Flüchtling in einem von Nazi-Offizieren besuchten Nachtclub in der Via Veneto arbeitete und dort einen jungen Offizier namens Kurt kennenlernte, der ihr irgendwann mit Lebensmitteln half. Ende Oktober 1948 gingen die Jacobis, so erinnert sich Ilan Jacobi heute, in Neapel an Bord eines griechischen Schiffs, das sie über Sizilien und Kreta ins israelische Haifa brachte, wo sie am 2. November ankamen.

Wir wollen mit unserer Arbeit möglichst viele dieser Lebensgeschichten rekonstruieren.
Hubert Wolf

Einiges von dem, was Ilan Jacobi in seinem Buch schreibt, passt allerdings nicht zu den detailreichen Recherche-Ergebnissen der münsterschen Forscher. Was hat er als Kind seinerzeit erlebt und konkret sowie korrekt im Gedächtnis behalten? Wie viel Wahrheit, Wunschdenken und Fiktion stecken in seinen Erinnerungen? „Bewusste oder unbewusste Überformungen seiner Erinnerungen sind sehr wahrscheinlich“, sind sich die Wissenschaftler sicher. Sie fanden zahlreiche ergänzende Quellen, die beispielsweise die Behauptung Hildegard Jacobis stützten, wonach sie mit dem Vater von Claudio nie verheiratet war – was der wiederum erst an diesem Vormittag erfährt und als „nicht wahr“ bezeichnet.

In diesen Tagen steht für Ilan Jacobi und das Team der Universität Münster allerdings etwas anderes im Vordergrund: Sie sind froh, einen Weg durch den vatikanischen Archiv-Dschungel gefunden zu haben, um ihm den Brief seiner Mutter zu übergeben. „Wir wollen mit unserer Arbeit möglichst viele dieser Lebensgeschichten rekonstruieren“, unterstreicht Hubert Wolf. Dies werde noch viele Jahre dauern. „Aber wir wissen schon heute, dass der Vatikan jeden Fall einzeln geprüft und vielen Menschen geholfen hat.“

Autor: Norbert Robers

Projekt „Asking the Pope for help“

Im Oktober 2021 gestarteten Projekt „Asking the Pope for help“ geht es darum, die rund 15.000 Bittschreiben von Juden an Papst Pius XII. während der NS-Zeit wissenschaftlich zu erschließen, die damaligen Entscheidungen des Vatikans nachzuvollziehen und für die Öffentlichkeit in einer digitalen Edition aufzubereiten. Zudem dient es der politischen Bildung im Sinne einer Anti-Antisemitismuserziehung.

Das Projekt wird maßgeblich von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ und dem Auswärtigen Amt unterstützt. Zu den Förderern zählen zudem der Softwarekonzern SAP und die „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“, die die ersten Recherchen nach der Öffnung der Vatikanischen Archive finanzierte.

Leiter des Projektteams ist der Direktor des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster, Prof. Dr. Hubert Wolf. Zum Team gehören zudem die Koordinatorin Dr. Barbara Schüler, Jana Haack, Dr. Sascha Hinkel, Maik Henning Kempe, Dr. Elisabeth-Marie Richter, Dr. Judith Schepers sowie mehrere Hilfskräfte.
Weitere Infos: www.uni-muenster.de/FB2/aph/