Dunkle Materie gesucht
An diesem Tag im Frühjahr ist der Himmel über dem Gran-Sasso-Gebirge in Italien strahlend blau. Prof. Christian Weinheimer vom Institut für Kernphysik sitzt mit zwei Doktoranden und einem Postdoktoranden in einem Kleinbus des Gran-Sasso-Nationallabors. Das Fahrzeug rollt über die Autobahn A24 in Fahrtrichtung Teramo, gen Nordost. Kurz hinter Assergi fährt es in einen Tunnel ein, rund zehn Kilometer weiter wieder ans Tageslicht. Plötzlich eine Kehrtwende: Der Fahrer steuert den Wagen über eine nicht öffentliche Ausfahrt auf die Gegenfahrbahn, zurück in den Tunnel. Das Wendemanöver hat einen Grund: Das Fahrtziel liegt tief im Berg, zu erreichen nur über eine Ausfahrt der A24 in Fahrtrichtung L’Aquila.
Ins Gran Sasso zieht es Wanderer, Bergsteiger und Wintersportler. Das Gebirgsmassiv in den Abruzzen bietet unberührt wirkende Natur und spektakuläre Bergpanoramen. Dass mitten im Gran Sasso auch ein "Mekka" der Teilchenphysik liegt, wissen vermutlich die wenigsten Touristen. Zwischen L’Aquila und Teramo, rund 120 Kilometer nordöstlich von Rom, bedeckt von einer 1400 Meter dicken Schicht aus Felsgestein, befindet sich das größte Untergrundlabor der Welt: das Gran-Sasso-Nationallabor (Laboratori Nazionali del Gran Sasso, LNGS). Rund 1000 Wissenschaftler aus mehr als 30 Nationen beteiligen sich an den knapp 20 Experimenten, die dort stattfinden. Der Fels schirmt die empfindlichen Versuchsaufbauten vor kosmischer Strahlung ab.
Unter den Forschern sind der münstersche Astroteilchenphysiker Christian Weinheimer und seine Mitarbeiter. Gemeinsam mit rund 120 Wissenschaftlern aus aller Welt suchen die münsterschen Physiker mit dem Experiment "XENON" nach Beweisen für die Existenz einer Substanz, von der es astronomischen Beobachtungen und theoretischen Vorhersagen zufolge im Universum reichlich geben muss, die aber kein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hat: Dunkle Materie.
Fünfmal mehr Dunkle Materie als "normale" Materie gibt es, nehmen Physiker und Kosmologen an. Sie nachzuweisen, ist für viele Wissenschaftler eine Lebensaufgabe, so auch für die Physikerin Prof. Elena Aprile von der Columbia-Universität in New York, USA. Die 62-jährige gebürtige Italienerin leitet das XENON-Experiment und ist verantwortlich für den rund 13 Millionen Euro teuren neuen Detektor "XENON1T", der im November 2015 eingeweiht wurde. "Dieses Experiment bedeutet harte Arbeit und bestimmt mein Leben", sagt sie. "Aber es ist auch reizvoll, an vorderster Front zu forschen – mit dem leistungsstärksten Detektor seiner Art, der jemals entwickelt wurde."
An diesem Tag herrscht reger Betrieb im Nationalen Institut für Teilchenphysik in Assergi, einem 500-Einwohner-Dorf in der Gemeinde L’Aquila. Die Wissenschaftler des XENON-Experiments haben sich zur Konferenzwoche eingefunden. Viele nutzen die Gelegenheit, um mit dem nonstop pendelnden Minibus vom über Tage liegenden Institut des LNGS in das nur wenige Kilometer entfernt liegende Untergrundlabor zu fahren und dort ausstehende Arbeiten am Teilchendetektor zu erledigen.
An Wachleuten vorbei in den Untergrund
Auch Christian Weinheimer und sein Team sind am Institut in den Kleinbus eingestiegen. Nach der Wende auf der Autobahn und einigen weiteren Fahrtminuten im Tunnel biegt der Fahrer rechts ab. Das Auto wird langsamer, fährt über eine schmale Straße in den Fels hinein und bleibt schließlich vor einem stählernen Brandschutztor stehen – am streng bewachten Eingang des Untergrundlabors. Nachdem Wachleute das Tor geöffnet und den Wagen hindurchgewunken haben, steigen die Wissenschaftler aus: Identitätskontrolle. Zu Fuß und mit Sicherheitshelm geht es weiter in den Berg hinein.
Drei Kavernen liegen unter Tage nebeneinander, jede etwa 100 Meter lang, 20 Meter breit und 18 Meter hoch. Sie sind verbunden durch ein Tunnelsystem, das sich über eine mehrere Fußballfelder große Fläche erstreckt. Vorbei an labyrinthähnlichen Kurven und Abzweigungen, gelangt die münstersche Gruppe an ihr Ziel. Am Ende eines Tunnels tut sich nach links hin eine der gigantischen Kavernen auf. In ihrer Mitte steht hell erleuchtet ein dreistöckiges Gebäude mit Glasfront, davor wuchtige Stickstoff-Tanks, dahinter ein noch größerer Wasser-Tank, zehn Meter im Durchmesser, zehn Meter hoch. In seinem Inneren liegt das Herz des XENON1T-Experiments: der hochempfindliche Detektor, der Dunkle-Materie-Teilchen nachweisen soll. Das Wasser ist ein weiterer Schutzschild gegen ionisierende Strahlung, die die Messung stört.
Der Aufbau dient dazu, sogenannte WIMPs aufzuspüren ("Weakly Interacting Massive Particles"). Diesen hypothetisch vorhergesagten Teilchen schreiben Wissenschaftler Eigenschaften zu, die perfekt mit denen der Dunklen Materie übereinstimmen. "WIMPs sind wunderbare Kandidaten für Dunkle-Materie-Teilchen", schwärmt Christian Weinheimer – unter anderem, weil diese hypothetischen Teilchen kurz nach dem Urknall in genau der richtigen Anzahl erzeugt worden wären.
Das Experiment "XENON1T" wird WIMPs mit nie zuvor da gewesener Empfindlichkeit nachweisen können. Die Technik ist eine Weiterentwicklung zweier Vorgänger-Experimente, die seit 2005 durchgeführt wurden. Der Detektor misst Kollisionen von WIMPs mit Teilchen flüssigen Xenons, einem Edelgas. Dabei gibt es gleich mehrere Haken. Zum einen sind die Kollisionen sehr selten – statistisch betrachtet, sind etwa zwei pro Jahr zu erwarten. Gleichzeitig gibt es – trotz der 1400 Meter dicken Felsschicht, trotz des Wassertanks und trotz höchstmöglicher Sorgfalt bei der Auswahl der verwendeten Baumaterialien – auch unter Tage noch Störsignale, die die Wissenschaftler mit großem Aufwand von den "echten" Signalen unterscheiden müssen. Der Detektor misst pro Sekunde etwa eines dieser "falschen" Signale, die beispielsweise aus der natürlich vorhandenen radioaktiven Strahlung stammen.
Die kryogene Destillationssäule: einzigartige Technik aus Münster
Ein großes Problem für die Wissenschaftler waren bis vor kurzem Spuren eines zweiten Edelgases, Krypton. Bestimmte Isotope dieses Gases verursachen Störsignale. Es gab jedoch keine Technik, um sie aus dem Xenon vollständig zu entfernen. "Das ist Geschichte. Bei uns redet keiner mehr über Krypton", sagt Christian Weinheimer. Und er hat allen Grund, stolz darauf zu sein – schließlich waren es er und seine Mitarbeiter, die das Problem gelöst haben. Die Münsteraner entwickelten und bauten eine sogenannte kryogene Destillationssäule, mit der sich die Spuren von Krypton in nie da gewesener Reinheit aus dem Xenon entfernen lassen.
Diese Säule steht nun im Erdgeschoss des dreistöckigen Gebäudes, in dem komplizierte Technik untergebracht ist. Wegen ihrer Höhe ragt der obere Teil der Säule durch ein eigens ausgespartes Loch in der Zwischendecke bis in den zweiten Stock. Ein Mitarbeiter von Christian Weinheimer nutzt diesen Tag im Frühjahr, um letzte Feinarbeiten an der Säule durchzuführen. Bis zum Sommer wird die Apparatur dreieinhalb Tonnen flüssiges Xenon gereinigt haben – mit dieser Menge des Edelgases arbeitet der Detektor. Im Gegensatz zu den Vorläuferexperimenten setzen die Wissenschaftler hier erstmals mehr als eine Tonne Xenon ein, daher das Kürzel "1T" im Namen des Experiments.
Derzeit läuft "XENON1T" noch im Probebetrieb. Wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind – voraussichtlich im Sommer – wird es ernst. Dann beginnen die eigentlichen Messungen. Wird die "XENON-Familie", wie Elena Aprile die große Gemeinschaft aus gestandenen Wissenschaftlern und Nachwuchsforschern nennt, Dunkle Materie nachweisen können? Elena Aprile weiß es nicht. "Aber eines ist klar", unterstreicht sie. "Falls Dunkle Materie aus WIMPs besteht, haben wir die allerbesten Aussichten auf Erfolg."
CHRISTINA HEIMKEN
Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 4, 22. Juni 2016. Mehr zum Thema "Dunkle Materie" ist dort auf den Seiten vier und fünf zu finden.