Den Geheimnissen der Bibel auf der Spur
Johannes Schulze Wasserkönig starrt konzentriert auf das Foto auf dem großen Flachbildschirm. Vor ihm reihen sich kaum lesbar griechische Wörter aneinander. Der Student scheint unzufrieden, bedrückt schüttelt er den Kopf. "Sehen Sie hier die großen Flecken", fragt er und zeigt der Besucherin einige komplett weiße Stellen. "Das kann ich beim besten Willen nicht entziffern." Das Foto ist zu schlecht, vielleicht wurde es genau an dieser Stelle überbelichtet, oder das Original war bereits zerstört. Johannes Schulze Wasserkönig müsste das nicht weiter betrüben, doch der Abschnitt, mit dem sich die studentische Hilfskraft hier beschäftigt, ist etwas ganz Besonderes: Es ist ein Bibel-Text, genauer gesagt das Matthäus-Evangelium. Die Bibel – sie ist das Buch der Bücher, bricht immer wieder sämtliche Rekorde.
Das gesamte Werk wurde bereits in 469 Sprachen übersetzt, das Neue Testament liegt sogar in 1231 Sprachen vor. Und doch sind längst nicht alle ihre Geheimnisse gelüftet. Noch immer kennt keiner die vollständige Überlieferung des Neuen Testaments. Prof. Holger Strutwolf und sein Team vom Institut für Neutestamentliche Textforschung (INTF) wollen genau das ändern. Ihr Ziel ist es, eine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments zu erstellen, die so weit wie nur irgendwie möglich das Original rekonstruiert - die "Editio Critica Maior".
Seit mehr als 50 Jahren arbeiten die Fachleute am Institut für Neutestamentliche Textforschung der evangelisch-theologischen Fakultät daran, der erste Band – die Katholischen Briefe – ist bereits erschienen, bis 2030 soll die Arbeit abgeschlossen sein. In 15 Jahren läuft die Förderung durch die nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste aus. "Wir liegen bisher gut im Zeitplan", sagt Holger Strutwolf. Die Druckvorlage für die Apostelgeschichte sei so gut wie fertig und soll Mitte 2016 erscheinen. Parallel dazu sei das Markus-Evangelium gerade in Arbeit, die Handschriften des Matthäus-Evangeliums würden nun transkribiert, also abgeschrieben.
Mehrheitstext setzt sich durch
Die Basis für diese Arbeit legte Institutsgründer Kurt Aland. Er entwickelte das sogenannte Teststellensystem, um der Flut an Handschriften Herr zu werden, die er seit den 1950er Jahren aufzuspüren suchte. Im Laufe der Überlieferung setzt sich eine Textform durch, der Mehrheitstext, der jedoch nicht unbedingt dem Original entspricht. Im Gegenteil. Hat ein Schreiber beim Kopieren von Schriften die Wahl zwischen einem gut verständlichen und einem eher komplizierteren Text, wird er immer die glattere, schönere Variante wählen, erklärt Holger Strutwolf das Prozedere.
Hinzu kämen die vielen Fehler, die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen haben und oft "verschlimmbessert" wurden. "Für die wissenschaftliche Arbeit sind nicht die 1000 und mehr Handschriften interessant, die gleich sind. Uns interessieren vor allem die abweichenden Handschriften und ihre Varianten", erläutert Holger Strutwolf. Eben diese Varianten filtert das Teststellensystem heraus, und nur sie werden vollständig transkribiert.
Das ist die Arbeit von wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräften wie Johannes Schulze Wasserkönig. 14 Arbeitsplätze stehen ihnen zur Verfügung, ein Laptop und ein großer Bildschirm gehören zur Standardausrüstung. Der Bildschirm zeigt die eingescannte Handschrift, je nach Qualität der Aufnahme und des Originals eben mehr oder minder leserlich. Auf dem Laptop erscheint das Editor-Programm mit dem Text der im INTF edierten Handausgabe des griechischen Neuen Testaments, besser bekannt als Nestle-Aland.
Die Experten vergleichen Schriftzeichen für Schriftzeichen und Satz für Satz, gleichzeitig vermerken sie Abweichungen oder Fehler. Jeder Detektiv wäre stolz auf die zehn Transkribenten, die derzeit am Institut arbeiten. Mit Tee, Kaffee und Plätzchen haben sie sich im Obergeschoss des Hauses in der Pferdegasse häuslich eingerichtet. Aber: Nach maximal vier Stunden ist Schluss. "Die Arbeit ermüdet die Augen dermaßen, irgendwann sieht man praktisch fast nichts mehr", sagt Marie-Luise Lakmann.
Ohne Computer geht nichts
Haben die Studierenden ihre Arbeit geleistet, laufen bei Marie-Luise Lakmann die Fäden zusammen. Zwei Studierende transkribieren jede Handschrift unabhängig. Ein spezielles Computerprogramm vergleicht die Transkripte miteinander und gibt die Differenzen an. Marie-Luise Lakmann wertet sie aus, bügelt Fehler glatt und geht die Stellen durch, an denen die Studierenden nicht weiter wussten. Anschließend stellt ein Computer-Programm alle transkribierten Handschriften nebeneinander und zeigt auf, wo sie sich unterscheiden.
Dieses Variantenspektrum werten die Wissenschaftler um Holger Strutwolf aus. Sie analysieren, wo es sich um reine Schreibfehler handelt, ziehen die Zitate der alten Kirchenväter und alte Übersetzungen etwa in das Syrische oder Koptische zurate und nähern sich so immer mehr dem Original. "Man sollte keine komplett neue Bibel erwarten, hier geht es um wissenschaftliche Genauigkeit", unterstreicht Holger Strutwolf, der seit 2004 Lehrstuhlinhaber für Patristik und Neutestamentliche Textforschung sowie Direktor des INTF und des Bibelmuseums ist.
Ein beispielhaftes Zitat aus dem Lukas-Evangelium: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Vielen sind die Worte der Engel an die Hirten vor Bethlehem wohl vertraut, Jahr für Jahr lauschen wir der Bibel-Übersetzung Martin Luthers an Heiligabend in der Christmette. Was viele nicht wissen: Luther hatte bei seiner Arbeit eine Ausgabe des Neuen Testaments mit dem Mehrheitstext benutzt und entsprechend übersetzt.
Heute ist aufgrund der im INTF erbrachten Forschungsleistungen erwiesen, dass die älteste Fassung anders lautete: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens." Eine Erwählungsaussage. "Das ist nicht das Friede-Freude-Eierkuchen-Christentum. Hier wird klar gesagt, dass es Menschen gibt, die Gott gefallen und andere Menschen, die ihm nicht gefallen", erklärt Holger Strutwolf. In der Weihnachtsgeschichte kam das bei manch einem Kopisten freilich nicht so gut an, und so fiel im Laufe der Zeit das Genitiv-S weg.
Um den ältesten Text einer Bibelstelle zu rekonstruieren, wird die in Münster entwickelte, sogenannte "kohärenzbasierte genealogische Methode" herangezogen. So kann es beispielsweise sein, dass eine Handschrift "kontaminiert" ist, das heißt, der Kopist hat eine Lesart einfließen lassen, die er aus einer anderen, vielleicht älteren Quelle kannte, die aber nicht in der Vorlage stand. Mit Hilfe der kohärenzbasierten genealogischen Methode versuchen die Wissenschaftler, eine Art Handschriften-Stammbaum zu erstellen, mit dem sie herausfinden können, welche Lesart die älteste ist.
Die Bibel ist jede Mühe wert
Den Respekt vor dem Wort Gottes hat der Institutsdirektor bei aller wissenschaftlichen Akribie nicht verloren, obwohl Kritiker ihm das gern vorwerfen. "Die Bibel ist einer der am besten überlieferten und wirkungsmächtigsten Texte. Ich weiß daher um meine Verantwortung." In seinen drei Jahren als Pfarrer (2002 bis 2004) habe er festgestellt, wie lebendig und wie tiefgründig der Text sei. "Die Bibel ist es wert, dass man sich mit ihr abmüht." Aber – und das ist Holger Strutwolf wichtig – als Wissenschaftler dürfe man sich nicht von Glaubensüberzeugungen leiten lassen. "Wer unsere Erkenntnisse nicht mit seinen theologischen Überzeugungen vereinbaren kann, der muss an seinem Glauben arbeiten", meint der Institutsdirektor.
Seine liebste Bibelstelle? Holger Strutwolf zögert nicht. Johannes 3,16f.: "Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde." Oder wie Holger Strutwolf es formuliert: "Ich glaube nicht an das Gute im Menschen, aber an das Gute in Gott. Er kann und will den Menschen retten, obwohl er so ist, wie er ist." Eine tröstliche Aussicht in diesen kalten, düsteren Adventstagen.
Bernadette Winter
Hintergrund:
Das Mekka der Bibelwissenschaft - das INTF
Das Institut für Neutestamentliche Textforschung wurde 1959 gegründet und gilt als "Mekka der Bibelwissenschaft". Bereits in den 50er Jahren hatten der spätere Institutsgründer Prof. Dr. Kurt Aland sowie Eberhard und Erwin Nestle am "Novum Testamentum Graece" gearbeitet, einer wissenschaftlichen Handausgabe des Neuen Testaments. 5.500 Handschriften des griechischen Neuen Testaments sind derzeit bekannt. Die ältesten sind auf Papyrus festgehalten, 128 von ihnen bereits gefunden. Kurt Aland gab das Ziel aus, sämtliche Handschriften aufzuspüren, zu fotografieren und zu transkribieren. Heute existiert in Münster die umfangreichste Sammlung der Welt an Mikrofilmen und Fotografien von neutestamentlichen Handschriften. Wird irgendwo eine noch unbekannte Handschrift entdeckt, bekommt sie eine neue Nummer in der münsterschen "Kurzgefassten Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments". 1979 gründete Kurt Aland das Bibelmuseum, das die Arbeit des Instituts der Öffentlichkeit präsentiert. Derzeit ist das Bibelmuseum wegen Umbauarbeiten geschlossen.
Bernadette Winter