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Münster (upm/lp).
Das Foto zeigt den Kartografen Oliver Rathmann und den Redakteur Daniel Stracke. Sie stehen in einer Bibliothek. Gemeinsam betrachten sie einen Atlas.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Über 150 Städte wurden am Institut für vergleichende Städtegeschichte bereits im Rahmen eines europaweiten Verbundprojekts bearbeitet. Oliver Rathmann (l.) und Dr. Daniel Stracke begutachten das Kartenmaterial der Geschichtsatlanten.
© Uni MS - Johannes Wulf

Es beginnt mit einem Buntstift

Geschichtsatlanten sind wertvolle Informationsquellen für Forschungsprojekte verschiedener Fachrichtungen

Wer in der Bibliothek des Instituts für vergleichende Städtegeschichte (IStG) einen der über 600 europäischen Städteatlanten aufschlägt, sieht, wie feinste Linien und Formen ein Kunstwerk aus Straßen, Gebäuden und Flüssen ergeben. Auf manchen Karten sind die Linien bis zu 0,1 Millimeter dünn, damit nahezu jedes Wohnhaus, jeder Feldweg, gar jede Windmühle präzise abgebildet werden kann. Neben den Details ziehen auch verschiedene Farben die Aufmerksamkeit auf sich, wie am Beispiel einer Entwicklungsphasenkarte der Stadt Magdeburg deutlich wird: Die lilafarbenen, grünen, gelben und orangefarbenen Flächen setzen sich auf dem glatten Papier zu einem Stadtbild zusammen, das nicht einfach nur bunt ist, sondern konkrete inhaltliche Aussagen abbildet. Denn die Ästhetik wird einzig vom Informationsgehalt übertroffen: An den Atlanten lassen sich etwa historische Stadtentwicklungen, Zerstörungen während der Weltkriege oder Veränderungen in der Verkehrsplanung ablesen.

Das Bild zeigt mehrere geografische Karten, die auf einem Tisch liegen. Ganz oben befindet sich ein Atlas mit dem Titel "Deutscher Städteatlas".<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Der Deutsche Städteatlas ist eines von vielen Projekten, die im Institut für vergleichende Städtegeschichte bearbeitet werden.
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Es braucht ein wenig Geduld, die Karten zu lesen und zu entschlüsseln. Noch mehr Geduld braucht es jedoch dabei, sie herzustellen. Am Atlas der Stadt Magdeburg, der 2024 als siebter Teil der Reihe „Deutscher Historischer Städteatlas“ erschien, hat ein Team von Autorinnen und Autoren mit Redakteur Dr. Daniel Stracke und Kartograf Oliver Rathmann drei Jahre gearbeitet. „Ein eindrucksvoller Band, der 1.200 Jahre Stadtgeschichte ins Kartenbild bringt“, finden die beiden.

Was genau ist ein Städteatlas? Die Antwort von Daniel Stracke erscheint zunächst simpel. „Mithilfe von Städteatlanten möchten wir eine Antwort auf die Frage finden, was, wann, wo und warum geschah.“ Konkret handelt es sich um eine Sammlung alter, historischer sowie thematischer Karten. Grundlage der Arbeit sind die sogenannten Urkatasterkarten. Diese zumeist im 19. Jahrhundert gezeichneten Pläne findet das Institutsteam in Archiven sowie Vermessungs- und Katasterämtern. Auf dieser Basis erarbeiten die Institutsbeschäftigten, je nach Schwerpunkt, den sie zuvor mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor Ort festlegen, die weiteren Karten. So entstehen beispielsweise Entwicklungsphasenkarten, die Aufschluss über den Baufortschritt einer Stadt über die Jahrhunderte geben, und andere Themenkarten, die etwa die Industriegeschichte darstellen.

Die Karten werden dafür in einem Geoinformationssystem zusammengefügt und nachgezeichnet: Straße für Straße, Gebäude für Gebäude. Es entsteht eine grafische Raumdatenbank. „Das erfordert viel Zeichenarbeit und eine umfangreiche Planung der Kartengestaltung, um die Informationen übersichtlich darzustellen“, erklärt Oliver Rathmann. Für den „Deutschen Historischen Städteatlas Magdeburgs“ habe er drei Monate jeden Tag Objekte nachgezeichnet, bis er nach schätzungsweise 16.000 Formen fertig war. „Der erste Kartograf, mit dem ich hier zusammengearbeitet habe, hatte in seiner Anfangszeit noch mit der Stahlfeder und Tinte gezeichnet“, erinnert sich Daniel Stracke. „Eine Themenkarte entwerfe ich meistens zuerst mit Buntstiften, bevor ich mich mit der Skizze an den Profi – den Kartografen – wende“, erklärt der Historiker.

Dank digitaler Werkzeuge hat sich die Arbeit am Institut in den vergangenen Jahren vereinfacht – ein Trend, der wohl anhalten wird. Die Entwicklung von KI-Tools etwa haben die Mitarbeiter des IStG genau im Blick. Gut möglich, dass diese in einigen Jahren die Kartierungsarbeiten deutlich vereinfachen, vermuten Daniel Stracke und Oliver Rathmann. Für ein Pilotprojekt hatten sie schon Grundlagen bereitgestellt. Aber: „Eine KI kann mit möglichst standardisierten und optisch ähnlichen Quellen am präzisesten arbeiten“, erklärt Oliver Rathmann. „Historische Karten bieten dagegen viele Herausforderungen.“ Die Karten sind vergilbt, bröselig, nachträglich verändert – und die Zeichnungen oft nur schwer zu erkennen. Damit könne die KI nicht umgehen. Noch nicht.

Dieses Bild zeigt Details einer Flurkarte der Katasteraufnahme von Münster mit St. Lamberti. Solche Karten sind die wichtigste Grundlage für die Erarbeitung von Städteatlanten.<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Dieses Bild zeigt Details einer Flurkarte der Katasteraufnahme von Münster mit St. Lamberti (1828/30). Solche Karten sind die wichtigste Grundlage für die Erarbeitung von Städteatlanten.
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Neben den Städteatlanten entwickelt das IStG-Team interaktive Online-Anwendungen und setzt auf die Publikation ihrer Geodaten. Denn diese können weiterverwendet werden: in der Stadtplanung, im Stadtmarketing oder in Museen, die daraus interaktive Stationen oder Virtual-Reality-Anwendungen entwickeln und den Bürgerinnen und Bürgern auf diese Weise Stadtgeschichte vermitteln. „Auch in der Forschung dienen Geodaten als interdisziplinärer Anknüpfungspunkt für Projekte, beispielsweise zwischen Geschichtswissenschaft, Geografie oder Archäologie“, betont Daniel Stracke.

Doch das ist nicht alles. Die Städteatlanten laden auch zum Entdecken und Schmökern ein. So helfen sie etwa dabei, sich auf den nächsten Städtetrip vorzubereiten, denn sie ermöglichen es, in die Geschichte und Topografie einer Stadt einzutauchen, wie Daniel Stracke aus eigener Erfahrung berichtet. „Nachdem wir den Atlas von Quedlinburg bearbeitet hatten, konnte ich meine Familie durch die komplette Welterbestadt führen“, erzählt er, „ohne zuvor jemals dort gewesen zu sein.“ Zudem lernt man beim Durchblättern der Atlanten kuriose Details über einige Städte kennen – etwa den präzisen Standort jeden Misthaufens in Dorsten um 1820 und dass unter den Braunschweiger Grundstücksbesitzern um 1880 sowohl ein „Strohhutwäscher“ verzeichnet ist als auch eine Dame, die ihren Stand als „Witwe des Drogenhändlers“ angab.

Autor: Linus Peikenkamp

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 2. April 2025.

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