Auf strenge Kontrolle kommt es an
Alltagsstress, Erkältungssaison, hastige Mahlzeiten: Viele Menschen möchten ihrem Körper angesichts dieser Widrigkeiten etwas Gutes tun. Andere leben zwar gesund, sehen aber Optimierungspotenzial. In Summe greifen drei von vier Deutschen zumindest gelegentlich zu Nahrungsergänzungsmitteln. Am beliebtesten waren laut einer Untersuchung der Online-Plattform Statista im Umfragezeitraum 2022 bis 2023 Vitaminpräparate (61 Prozent der Befragten gaben an, diese in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert zu haben), Mineralien (36 Prozent) und Proteine (26 Prozent). Der Nutzen solcher Präparate ist umstritten. So könnten sie laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Einzelfällen sinnvoll sein. Für gesunde Personen, die sich ausgewogen und abwechslungsreich ernähren, seien sie jedoch in der Regel überflüssig. Eine unausgewogene Ernährungsweise wiederum könnten sie auch nicht ausgleichen.
Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Andreas Hensel am Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie der Universität Münster sieht weitere Probleme. Das münstersche Team hat Nahrungsergänzungsmittel, die aus Pflanzen hergestellt werden, analysiert und bei zahlreichen dieser sogenannten Botanicals Qualitätsmängel festgestellt. Botanicals lagen in der Statista-Umfrage auf den Plätzen vier und fünf: 18 beziehungsweise 15 Prozent der Befragten gaben an, Kräuter oder Kräuterprodukte beziehungsweise andere pflanzliche Ergänzungsmittel wie Algenöl zu sich genommen zu haben.
Grundsätzlich bescheinigt Andreas Hensel Pflanzen ein großes Potenzial, die Gesundheit zu fördern und Beschwerden zu lindern. „Viele nicht verschreibungspflichtige pflanzliche Arzneimittel haben eine nachgewiesene Wirkung“, betont der Pharmazeut. Diese Präparate – nicht zu verwechseln mit den Botanicals – können daher je nach Beschwerden und Diagnose eine sinnvolle Alternative sein. Zum Beispiel wirkt der Extrakt aus Passionsblumenkraut gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen und gegen nervöse Unruhe. „Arzneimittel aus der Passionsblume können für ältere Menschen besser geeignet sein als verschreibungspflichtige Medikamente, die mit Nebenwirkungen wie einer erhöhten Sturzgefahr einhergehen“, ergänzt Apothekerin Alexa Brouns. Man könne sie mit weiteren pflanzlichen Extrakten kombinieren, zum Beispiel Baldrian, Melisse oder Lavendel. Der Extrakt aus Passionsblumenkraut wirkt, indem er Botenstoffe im zentralen Nervensystem reguliert. Der genaue Mechanismus ist jedoch noch nicht bekannt. Möglicherweise entsteht der Wirkstoff erst im menschlichen Darm, wenn der Extrakt durch die Darmbakterien fermentiert wird.
Alexa Brouns hält Botanicals, speziell auch aus der Passionsblume, ebenfalls für problematisch. Sie untersuchte Passionsblumenpräparate, die sie bei Onlinehändlern, in Drogerien und in einer Apotheke gekauft hatte, für ihre Doktorarbeit im Hinblick darauf, ob die Gehaltsangaben stimmen. Insgesamt sechs verschiedene Nahrungsergänzungsmittel hat sie gefunden, die zum Teil im Internet stark beworben werden. „Passionsblume ist schwer zu kultivieren, es gibt daher eine überschaubare Zahl von Anbietern“, erklärt Alexa Brouns. Trotz der kleinen Stichprobe sind ihre Untersuchungsergebnisse eindeutig: Nur in einem Produkt war der auf der Verpackung deklarierte Passionsblumenextrakt tatsächlich in der angegebenen Menge enthalten. Bei den anderen stimmten die Angaben nicht. Zum Vergleich hat sie fünf in Deutschland erhältliche Arzneimittel aus Passionsblumenextrakt untersucht – hier stimmte die Qualität bei allen Präparaten. Die Befunde decken sich mit den früheren Ergebnissen der Gruppe zu anderen Botanicals, beispielsweise aus Brokkoli oder Heidelbeeren. „Viele Menschen ahnen nicht, dass ein Produkt nicht immer das enthält, was die Aufschrift suggeriert“, meint Lebensmittelchemiker Dr. Matthias Lechtenberg. „Ein Beispiel: Manche Nahrungsergänzungsmittel enthalten zwar Material der angegebenen Pflanze, aber nicht die richtigen, wirkstoffhaltigen Pflanzenteile.“
Verlangen Sie ausdrücklich Arzneimittel und keine Nahrungsergänzungsmittel"
Zwischen Nahrungsergänzungsmitteln und Arzneimitteln gibt es einen entscheidenden Unterschied: Während die Qualität der Arzneimittel über den ganzen Prozess und für jede Charge behördlich überwacht und regelmäßig streng überprüft wird, sieht das Lebensmittelrecht solche umfassenden Kontrollen nicht vor, sondern setzt mehr auf die Eigenverantwortung der Produzenten und der vertreibenden Unternehmen. Daher können entlang der teils unübersichtlichen internationalen Lieferketten diverse Qualitätsprobleme auftauchen – vom mutwilligen Betrug über Produktionsfehler bis hin zu fehlenden Möglichkeiten, die Qualität zu kontrollieren, so Andreas Hensel.
Äußerlich sind pflanzliche Arzneimittel und Botanicals oft kaum unterscheidbar: Von der Verpackung bis zur Darreichungsform, beispielsweise Tabletten oder Kapseln, können sich die Produkte sehr ähnlich sein. Es hilft oft nur der Blick ins Kleingedruckte. „Verbraucher sollten bei pflanzlichen Präparaten auf die Qualität achten“, betont Andreas Hensel. „Verlangen Sie ausdrücklich Arzneimittel und keine Nahrungsergänzungsmittel, auch wenn Sie in Ihrer Apotheke vor Ort einkaufen.“
Autorin: Christina Hoppenbrock
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024.
Die Serie „fit und gesund“:
Sich fit halten und gesund werden oder bleiben: Das ist der Wunsch vieler Menschen. In dieser Serie stellen wir verschiedene Facetten von Gesundheit und Fitness an der Universität in den Mittelpunkt. Den sprichwörtlichen erhobenen Zeigefinger oder Patentlösungen bietet die Reihe nicht, jedoch eine wissenschaftliche Einordnung und zudem einige praktische Tipps.