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Menschen sind fehlbar, deshalb ist das Verzeihen als menschliche Kompetenz wichtig für das Zusammenleben.<address>© Duncan Andison - stock.adobe.com</address>
Menschen sind fehlbar, deshalb ist das Verzeihen als menschliche Kompetenz wichtig für das Zusammenleben.
© Duncan Andison - stock.adobe.com

Die reparierende Kraft des Verzeihens

Philosoph Nicolas Koj promovierte zu moralischem Fehlverhalten und seiner Bewältigung

Manchmal ist Verwirrung die Vorstufe zum Chaos. In anderen Fällen ist sie ein Anstoß zum Nachforschen, Gedankenmachen, Verstehenwollen. In einem speziellen Fall stand am Ende eine Promotion: Nicolas Koj befasste sich in seiner philosophischen Dissertation mit dem Spannungsfeld von moralischem Fehlverhalten und seiner Bewältigung. „Im Studium besuchte ich ein Seminar, in dem es um den Begriff des Entschuldigens ging. Dabei streiften wir das Verzeihen, und in der Folge tauchten immer mehr Begriffe auf, die Ähnlichkeiten miteinander haben“, erinnert sich der 29-Jährige. Während des Studiums wuchs in ihm der Wunsch, das begriffliche Durcheinander zu ordnen. In seiner Dissertation mit dem Titel „Verstoß und Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung zum Umgang mit menschlicher Fehlbarkeit“ habe er „die vielen Perspektiven und Teilerkenntnisse aus dem Studium“ zusammensetzen können.

Ausgangspunkt für den Vorgang des Verzeihens, den Nicolas Koj als Sprechakt untersucht hat, ist ein simpler Fakt: Menschen machen Fehler. Das ist so banal wie wahr. Und weil Menschen fehlbar sind, ist das Verzeihen als menschliche Kompetenz integral für das Zusammenleben. Zahlreiche psychologische und soziologische Studien legen nahe, dass vom Verzeihen nicht nur derjenige profitiert, der einer anderen Person Leid zugefügt hat. Wer verzeiht, tut sich selbst etwas Gutes. So postuliert eine Studie der US-amerikanischen Yale University, dass der menschliche Verstand darauf ausgelegt ist, soziale Beziehungen zu erhalten. „Das Verzeihen kann eine reparierende Kraft entwickeln“, sagt Nicolas Koj, der seine Doktorarbeit 2023 eingereicht hat. „Dadurch, dass wir den Täter neu bewerten, heben wir die Beschuldigung seiner Person auf und erkennen ihn wieder als integer an.“ Eine Krankenkasse wies ihre Versicherten in einem Interview mit einer Diplom-Psychologin im Mitgliedermagazin aus dem Jahr 2021 explizit auf den gesundheitlichen Nutzen des Verzeihens hin, „um mit voller Kraft nach vorne zu blicken“.

Nicolas Koj<address>© Matthis Timnik</address>
Nicolas Koj
© Matthis Timnik
Lange nachdem sich der Philosoph für sein Thema entschieden hatte, stieß er auf einen weiteren Grund, warum ihn der Forschungsgegenstand reizte. Sein Interesse geht auf eine „existenzielle menschliche Grundspannung“ zurück. „Wenn es der Fall ist, dass wir handelnde, soziale und fehlbare Wesen sind, dann ist es unvermeidlich, dass es im sozialen Miteinander immer wieder zu Konflikten kommt. Das Verzeihen“, unterstreicht Nicolas Koj, „ist eine Bewältigungsstrategie, um mit unserer Fehlbarkeit umzugehen und ihr zum Trotz zu einem gelingenden Zusammenleben zu finden.“ Um das Verzeihen philosophisch möglichst exakt untersuchen zu können, bestand ein wichtiger Teil der Dissertation in der Abgrenzung des Begriffs von verwandten Phänomenen. Zum Beispiel bedeute der Begriff des Entschuldigens, im Sinne des englischen „excuse“, dass die betreffende Person keine Schuld trägt. Das Vergeben hingegen hat wortgeschichtlich eine religiös-spirituelle Dimension, die dem Verzeihen ursprünglich nicht innewohne.

In einem weiteren Schritt grenzte der Philosoph die Merkmale des Verzeihens ein. Erstens müsse es vor dem Akt des Verzeihens zu einem moralischen Fehlverhalten gekommen sein, dann komme das Verzeihen als Reaktion in Frage. „Zweitens verzichtet man auf Vorwürfe.“ Etymologisch leite sich das „zeihen“ von „Zeiger“ ab. „Damit ist der Finger gemeint. Das ,Fingerzeigen‘ ist eine Geste des Anschuldigens. Indem man ,ver-zeiht‘, negiert man das Anschuldigen. Man bezichtigt also nicht weiter“, betont der 29-Jährige. Drittens nehme die geschädigte Person „eine Neubewertung des Täters vor, die es zulässt, sie in einem neuen Licht zu sehen“.

Während Nicolas Koj in seiner Doktorarbeit skizzierte, was es bedarf, um zu verzeihen, stieß er auf eine weitere komplexe Frage: Ist das Verzeihen eine Handlung oder ein Gefühl? Da dem Verzeihen immer Gefühle wie Verletzung oder Enttäuschung vorausgehen, scheint es logisch, dass das Verzeihen ein emotionaler Prozess ist. „Das ist richtig, es benötigt eine Veränderung im emotionalen Haushalt. Aber wenn wir das Verzeihen auf eine Gefühlssache reduzieren, unterliegt die Frage, ob wir verzeihen oder nicht, nicht mehr unserem Willen. Wir wären abhängig davon, ob sich dieses Gefühl einstellt oder nicht“, erklärt er. Betrachte man das Verzeihen als Sprechakt, könne man den Konflikt eigenständig beilegen. „Durch mein Handeln liegt es in meiner Kontrolle. Es kann also nicht nur dann zu einer Konfliktlösung kommen, wenn alle negativen Gefühle beseitigt sind.“

Nicolas Koj vertritt die Ansicht, dass eine Person durch die Aussprache des Satzes „Ich verzeihe dir“ eine Bindung eingeht. „Es ist ein paradigmatischer Satz, mit dem man sich verpflichtet, zu versuchen, die negativen Gefühle, die zu einem gewissen Grad noch da sind oder wiederauftauchen, zu bewältigen.“ Verpflichtungen, die Täter und Opfer mit dem Verzeihen eingehen, hätten eine sozial stabilisierende Funktion, ohne die ein langfristig gelingendes Zusammenleben nur schwer vorstellbar sei. Oder um es mit den Worten des verstorbenen südafrikanischen Erzbischofs und Menschenrechtsaktivisten Desmond Tutu zu sagen: „Es gibt keine Zukunft ohne Verzeihen.“

Autorin: Hanna Dieckmann

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 17. Juli 2024.

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