Gastlehrstuhl „Brazil Chair“ ist mit zwei Spitzenforschern besetzt
Lässt man eine Suchmaschine die Luftlinien zwischen dem münsterschen Schloss und den Universitäten in Minas Gerais und São Paulo berechnen, ergeben sich gerundet 10.000 Kilometer. Diese große Distanz spiegelt jedoch in keiner Weise die Beziehungen wider, die die Universität Münster mit brasilianischen Institutionen pflegt. In puncto Wissenschafts-Aktivitäten ist sie sogar eine der aktivsten ausländischen Universitäten in Brasilien. Sinnbildlich für die engen Netzwerke stehen zwei brasilianische Forschende, die derzeit zu Gast an der Universität Münster sind: Prof. Dr. Elaine Maria Souza Fagundes und Prof. Dr. José Carlos Vaz haben den „Brazil Chair“ inne. Der Gastlehrstuhl wird von der brasilianischen „Koordinierungsstelle für die Fortbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ (CAPES) finanziert.
Elaine Maria Souza Fagundes und José Carlos Vaz gehören zu den führenden Wissenschaftlern in ihren Bereichen. Die Professorin für Physiologie und Biophysik forscht an der Bundesuniversität von Minas Gerais im Bereich pharmazeutischer Innovationen. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Wirkstoffentdeckung von Krebsmedikamenten. José Carlos Vaz ist Professor für Public Policy Management an der Universität von São Paulo. Er beschäftigt sich mit dem Einsatz von Technologie in der öffentlichen Verwaltung und untersucht, welche Kapazitäten der Staat benötigt, um technologische Lösungen zur Förderung der Demokratie und zum Abbau sozialer Ungleichheiten umzusetzen. Der Gastlehrstuhl ist für beide Wissenschaftler eine Ehre. „Ich fühle mich privilegiert, mit großer Verantwortung die brasilianische Wissenschaft in Deutschland zu vertreten“, betont Elaine Maria Souza Fagundes.
Um Synergien wie diese zu fördern, unterstützt das Brasilien-Zentrum an der Universität Münster Wissenschaftler und Studierende bei Aufenthalten und Kooperationen. Im Jahr 2011 schloss die Universität Münster ein institutionelles Abkommen mit CAPES. Ein zentrales Element ist seither der „Brazil Chair“, um die Zusammenarbeit zwischen Forschenden auszubauen und die Sichtbarkeit brasilianischer Spitzenforscher zu verbessern. Konkret: 18 Monate Aufenthalt in Münster – inbegriffen ist jeweils die Finanzierung eines Doktoranden und eines Postdocs. Prof. Dr. Bernd Hellingrath, wissenschaftlicher Leiter des Brasilien-Zentrums, hält dies für eine wichtige Weiterentwicklung: „Dass die Forscher neuerdings von jungen Wissenschaftlern begleitet werden, trägt wesentlich dazu bei, nachhaltige Netzwerke aufzubauen. Das steigert die Sichtbarkeit der Universität Münster in Brasilien und hebt in Deutschland die Stärke der brasilianischen Wissenschaft hervor.“
Am Institut für Politikwissenschaft hat José Carlos Vaz als Gast von Prof. Dr. Norbert Kersting seine temporäre berufliche Heimat gefunden. Er empfindet die Zusammenarbeit sowohl beruflich als auch persönlich als bereichernd. „Natürlich gibt es Unterschiede in Organisationsformen, Ressourcen und Kultur, aber auch viele Ähnlichkeiten.“ Seine Heimatuniversität sei ebenfalls eine staatliche Institution, deren Schwerpunkt auf der Forschung liege. „Wir engagieren uns auch stark in der Lehre und haben 97.000 Studierende. Hier wie dort arbeiten hochqualifizierte Forscher. Ich sehe viele Möglichkeiten, wissenschaftlich relevante Kooperationen aufzubauen.“
Die Arbeit von Elaine Maria Souza Fagundes findet hauptsächlich im Labor statt, und hier stellt sie die größten Unterschiede fest. In Brasilien seien die Ressourcen knapp und die Forschungsbudgets deutlich kleiner. „Ich warte oft monatelang auf ein wichtiges Reagenz, und nicht alle Geräte sind verfügbar. In Deutschland gehen solche Dinge schneller und einfacher.“ In der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Johannes Eble am Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie arbeitet sie an Studien über die krebshemmende und antimetastatische Wirkung synthetischer Peptide – ein wichtiger Beitrag zur Entdeckung eines neuen Arzneimittelprototyps zur Behandlung von Brustkrebs.
Die Ruhe und den Überblick verliert sie dabei nie. Gerade, weil die Ressourcen in Brasilien knapper seien, so sagt sie, entwickelten viele Forscher dort eine wichtige Tugend: Kreativität. Diese Kompetenz sei allerorts gefragt. Elaine Maria Souza Fagundes sieht den Nutzen für beide Seiten. „Die hier entwickelten Methoden werden für künftige Projekte in Brasilien sehr wichtig sein, zum Beispiel um Studien zu vertiefen. Mithilfe des Lehrstuhls verbreiten wir das Wissen über unsere Entdeckungen in Deutschland, und wir tragen durch gemeinsame Patentanmeldungen, Kongresse und Veröffentlichungen zur wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung in beiden Ländern bei.“
In der Arbeitsgruppe „Vergleichende Politikwissenschaft – Kommunal- und Regionalpolitik“ hat sich ebenfalls eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt. „Es ist unser Ziel, Analysen und Vergleiche zum Beispiel zwischen lateinamerikanischen und europäischen Initiativen zu erstellen, um zu verstehen, wie sogenannte ‚Smart Cities‘ Möglichkeiten zur Förderung der politischen Online-Beteiligung nutzen können“, erklärt José Carlos Vaz. Zudem wolle die Gruppe ein Netzwerk von Forschern und Praktikern aufbauen, um auch deren Beiträge zu nutzen. „Wir wollen uns mit diesem praktischen Thema an ein breites, auch nicht-wissenschaftliches Publikum richten“, erklärt er.
Beide Wissenschaftler schauen auch über den Tellerrand des universitären Umfelds. „Die Stadt als solche gefällt mir sehr“, betont José Carlos Vaz. „Die Möglichkeit, jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, ist ein Privileg“, ergänzt Elaine Maria Souza Fagundes. „Ich nehme Münster als schöne, organisierte und saubere Stadt voller Attraktionen wahr. Kurzum, unser Aufenthalt hier ist eine einzigartige Erfahrung, die wir so gut es geht auskosten.“
Autorin: Hanna Dieckmann
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 8. Mai 2024.