„Wir erleben die Geowissenschaften unmittelbar“
Seit mehr als 20 Jahren fahren Studierende des Fachbereichs Geowissenschaften der Universität Münster auf Exkursionen ins Kleinwalsertal. Nun ist es wieder soweit: Ende August geht es für elf Tage in den rund 700 Kilometer entfernt gelegenen österreichischen Ort auf 1.400 Meter in den Allgäuer Alpen. 15 Studierende, zwei Exkursionsleiter und ein Tutor erkunden die geologischen, geobotanischen und geografischen Besonderheiten der Region. Kathrin Kottke sprach im Vorfeld der Reise mit Dr. Torsten Prinz, der mit Prof. Dr. Harald Hiesinger die Exkursion leitet.
Sie fahren seit vielen Jahren in das Kleinwalsertal auf Exkursion. Es wird offenbar nicht langweilig...
Kein Stück – im Gegenteil. Die Region ist so vielfältig, es gibt immer wieder neue Aspekte zu erkunden. Auf kleinstem Raum lassen sich 60 Millionen Jahre Erdgeschichte darstellen. Das liegt an der komplexen regionalen Plattentektonik und den daraus resultierenden, heute sichtbaren vielfältigen geologischen Strukturen. Im Kleinwalsertal lässt sich auf engstem Raum hervorragend nachvollziehen, wie die Platten von Paläo-Europa mit den Platten von Paläo-Afrika zusammenstießen. Dazwischen lag ein millionenalter Ozean, der durch diese Kollision eingeengt, gehoben und zu den heutigen Alpen zusammengeschoben wurde. Die Studierenden haben die Möglichkeit, diese unterschiedlichen ehemaligen geologischen Räume in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander kennenzulernen.
An welche Studierenden richtet sich die Exkursion?
Sie steht allen Studierenden ab Masterlevel aus den Fächern Geografie, Geowissenschaften und Landschaftsökologie offen. Auf der Exkursion können sie ihr theoretisches Wissen praktisch anwenden.
Und war lernen die Studierenden konkret vor Ort?
Inhaltliche Schwerpunkte sind die Kartierungen der geologisch-tektonischen Besonderheiten sowie der geobotanischen und ökologischen Gegebenheiten. Es werden aber auch sozial- und wirtschaftsgeografische Aspekte thematisiert – etwa die Auswirkungen des Massentourismus in der Region in Zeiten des Klimawandels oder die Herausforderungen der Almwirtschaft.
Klingt sehr interdisziplinär …
So ist es auch. Vor vielen Jahren startete die Geländeveranstaltung als eher klassisch ausgerichtete geologische Wanderexkursion. Inzwischen betrachten wir zunehmend die zahlreichen Prozesse und ihr Zusammenspiel: die Gesteine, die Bodenbildung, die Verwitterungsprozesse und die daraus resultierenden ökologischen Standortbedingungen für Pflanzen und Tiere und deren Bedeutung für den gesamten Untersuchungsraum. Aber auch die Auswirkungen klimatischer Veränderungsprozesse und das Eingreifen des Menschen in die Natur werden sichtbar und untersucht.
Wie sieht ein klassischer Exkursionstag aus?
Unser Basislager ist die Zaferna-Hütte oberhalb Mittelbergs. Dort starten wir jeden Morgen gemeinsam um 8 Uhr mit einem Frühstück. Die Kochgruppe muss allerdings schon um 6 Uhr ins Tal und die frischen Zutaten besorgen. Da der Lift um diese Zeit noch nicht fährt, haben einige Studierende schon ihre erste Sporteinheit hinter sich (lacht). Oft geht es sportlich weiter – besonders an den Tagen, an denen wir gemeinsam die Region erwandern. Zum Beispiel zum Widderstein, ein Bergmassiv auf etwa 2.533 Meter Höhe, oder zum Gottesackerplateau auf etwa 2.000 Meter. Das ist eine einzigartige, unter Naturschutz stehende alpine Karstlandschaft in der Nähe des Hohen Ifens.
Unternimmt die Gruppe immer alles zusammen?
Nein. Es gibt auch Exkursionstage, die beispielsweise gezielt für verschiedene Kartierungen vorgesehen sind. In diesen Fällen teilen wir die Studierenden in fünf bis sechs Gruppen ein – je nach Studienfach. Zum Beispiel lernen die Studierenden der Geowissenschaften, geologische Karten zu erstellen. Dazu gehört unter anderem die Arbeit mit Hammer, Geologenkompass, GPS (Global Positioning System) und topographischen Karten, um die Verteilung der unterschiedlichen Gesteine, ihre Altersabfolge und den tektonischen Aufbau zu untersuchen. Die Landschaftsökologen beschäftigen sich mit der Untersuchung von Böden und wechselnder Geobotanik. Sie lernen welche Pflanzen sogenannte Zeiger für bestimmte Standortverhältnisse sind – etwa Kalk- oder Nässezeiger. Die Geografie-Studierenden untersuchen wiederum die wirtschafts- oder sozialgeografischen Aspekte der Gegend. Das kann zum Beispiel eine empirische Interviewkampagne in den touristischen ‚hot-spots‘ des Tales sein.
Am Abend sind vermutlich alle erschöpft …
Das stimmt! Es gibt Abende, an denen wir gemeinsam etwas unternehmen – zum Beispiel Wikingerschach spielen oder uns Vorträge anhören. An anderen Abenden sitzen wir auf der Wiese vor der Hütte und genießen in aller Ruhe das Alpenpanorama. Man hört nur das Läuten der Kuhglocken und das Meckern der Ziegen.
Klingt nach einer Postkartenidylle – haben Sie ein Highlight, das Ihnen in all den Jahren in Erinnerung geblieben ist?
Es klingt simpel, ist für mich aber die Faszination und Motivation dieser jahrelangen Exkursionstradition: Es wird nie langweilig, weil man immer etwas Neues erfährt. In dieser Umgebung erleben wir die Geowissenschaften unmittelbar.
Was bedeutet das konkret?
Schon beim Heraustreten aus der Unterkunft ist man von einer Vielfältigkeit geowissenschaftlicher Faktoren umgeben, die unmittelbar auf einen einwirken und dem man sich nicht entziehen kann. Viele Menschen würden sagen, das ist einfach eine wunderschöne Natur. Aber als Wissenschaftler oder Studierende betrachten wir die Umgebung mit anderen Augen. Natürlich sehen wir auch die Schönheit und Ästhetik der Berge, aber wir haben dabei immer unsere Analysebrille auf Warum wächst diese Pflanze hier? Wie ist das Gesteinsmaterial auf die Weide gekommen? Wieso musste ein neuer Wanderweg erschlossen werden? Obwohl wir das schon so lange machen, entdecken wir immer wieder neue Phänomene, die wir jahrelang vorher nicht mitbekommen haben.
Woran liegt das?
Beispielsweise sind nach der Erosion durch die Schneeschmelze bislang bedeckte Regionen zugänglich. Wir entdecken Gesteine oder tektonische Strukturen, die man vorher nicht sehen konnte. Auch der Klimawandel sowie die anthropogene Nutzung verändern stetig die ökologischen Rahmenbedingungen. Wir lernen also ständig dazu, werfen alte Hypothesen um, stellen neue auf und diskutieren diese mit den Studierenden. Ich bin gespannt, was uns dieses Jahr erwartet.