Wie ein Psychologe und ein Politologe die Reaktion der Bevölkerung auf die Krisen einschätzen
Derzeit muss die Bevölkerung gleich mehrere Krisen meistern – und das nicht nur in der Ferne, sondern spürbar vor Ort: Neben der Klimakrise und der Pandemie setzen der Krieg in der Ukraine, die hohe Inflation und eine gefährdete Energieversorgung den Menschen zu. Wie der Einzelne, aber auch die Gesellschaft darauf reagieren sollten und wie vor allem Politiker agieren können, haben André Bednarz und Norbert Robers im Interview mit dem Psychologen Prof. Dr. Mitja Back und dem Politologen Prof. Dr. Bernd Schlipphak von der Universität Münster diskutiert.
Wie viel Krise verträgt der Einzelne, aber auch die Gesellschaft?
Mitja Back: Historisch wie auch im aktuellen Weltvergleich können die Deutschen mehr aushalten, als sie derzeit erleben. Der Mensch ist sehr anpassungs- und leidensfähig. Wichtig ist aber, dass es nicht um eine absolute Belastung, sondern um relative Vergleiche geht – also um die Frage, wie der Einzelne sich im Vergleich zu anderen wahrnimmt, und ob bei diesem Vergleich das Gerechtigkeitsempfinden berührt wird.
Es gibt also keine allgemeine Höchstgrenze für Belastungen?
Mitja Back: Nein, denn jeder Mensch hat ein individuelles Maß an Widerstandsfähigkeit und Verträglichkeit. Gleichwohl können mehrere Krisen die Belastungen für den Einzelnen verstärken.
Bernd Schlipphak: Es gibt insofern ein absolutes Maß an Angst, als Ängste einander verdrängen. Aus diesem Grund erachten viele Menschen die Coronapandemie inzwischen als weniger gefährlich, da die Angst rund um Krieg und Versorgung dominiert.
Mitja Back: Genau, akute Belastungen werden immer auch durch unsere Bewertungen beeinflusst. Und die ändern sich, sobald andere Themen im Vordergrund sind.
Bernd Schlipphak: Deshalb müssen wir unterscheiden zwischen der Wahrnehmung von Angst und den Effekten, die dieses Gefühl langfristig auf die Gesellschaft und das Funktionieren von Politik hat.
Welche Rolle spielt der Informationsaustausch in einer Gesellschaft? Kann die dauerhafte Präsenz von Bedenken und Sorgen, tausendfach geteilt, eine Krise beschleunigen?
Bernd Schlipphak: Die Kommunikation hat einen Einfluss darauf, wie sich der Einzelne mit anderen vergleichen kann. Sowohl die korrekten als auch die verfälschten Informationen über andere spielen eine wichtige Rolle dabei, ob jemand seine Position als gut oder schlecht bewertet.
Ist es ein typisches menschliches Phänomen, dass man sich mit anderen vergleicht, Herr Back?
Mitja Back: Ja, aber nicht nur mit anderen, sondern auch mit seinem früheren Ich oder damit, wie man gerne wäre. Vergleiche durchziehen unser Leben – der soziale ist besonders wichtig. Hilfreich für eine höhere Widerstandsfähigkeit des Einzelnen kann es sein, diese Vergleichsprozesse anzupassen, indem man sich mit Zeiten vergleicht, in denen das Leben beschwerlicher war, oder mit anderen Gruppen, denen es schlechter geht. Man muss aber wissen, dass das nicht allen Menschen gleich gut gelingt. Es gibt Menschen, die sind resistenter als andere.
Woran liegt das?
Mitja Back: Das liegt an Persönlichkeitsunterschieden, etwa hinsichtlich der Stressantwort. Das klingt zunächst nicht sonderlich hilfreich. Aber es wäre blauäugig zu denken, dass ,die Bevölkerung‘ einheitliche Sorgen und Ansichten hat – dazu sind die Menschen zu verschieden. Um die Menschen trotz ihres Unmuts und trotz ihrer Belastungen für die Regierungspolitik zu gewinnen, ist es wichtig, dass Politiker ein Ziel kommunizieren, für das die verschiedensten Menschen bereit sind, einen persönlichen Einsatz zu bringen. Beispielsweise könnte im Kampf gegen die Klimakrise eine Erzählung genutzt werden, die für unterschiedliche Gruppen gleichermaßen funktioniert. So ist der Schutz der Natur und des Lebens sowohl etwas Fortschrittliches als auch etwas Urkonservatives. Das ist ein Beispiel dafür, wie man nicht nur einzelne Gruppen mit einer Botschaft erreichen kann.
Braucht es also beispielsweise eine Ruck-Rede etwa des Bundeskanzlers, damit sich die Menschen hinter der politischen Führung versammeln?
Mitja Back: Eine Ruck-Rede wird nicht reichen. Aber da der Erfolg einer Botschaft auch an Personen geknüpft ist, müsste der Kanzler stärker kommunizieren.
Bernd Schlipphak: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat gezeigt, wie man zumindest ein Narrativ setzen kann: Er hat unzählige Male von einem Europa gesprochen, das seine Bürger schützt. Irgendwann hat diese Botschaft zumindest einen größeren Teil der Bevölkerung erreicht.
Sind die meisten Menschen denn empfänglich für positiven Botschaften oder liegt der Fokus nicht vielmehr auf dem Schlechten?
Mitja Back: Tatsächlich neigen Menschen dazu, Negatives stärker wahrzunehmen als Positives. Das Wesentliche ist, positive Botschaften zu finden, die nicht nur für die eigene Blase funktionieren, sondern die die verschiedenen Teile der Gesellschaft vereinen. Dazu müssten aber sowohl Politiker als auch Bürger die aktuellen Krisen nicht nur in der eigenen Gruppe besprechen, sondern versuchen, Personen aus einem anderen Lager anzusprechen und sich zu bemühen, deren Sichtweise zu verstehen. Häufig fehlt dieser Austausch. Hierin liegt für mich eine zusätzliche Sprengkraft der aktuellen Krisen – nicht nur die absolute Belastung und Dringlichkeit von Veränderungen, sondern auch der Mangel eines kommunikativen, demokratischen Prozesses und Miteinanders. Oftmals wird nicht mehr akzeptiert, dass es andere, in einer Demokratie zulässige Meinungen gibt. Das ist ein Problem.
Herr Schlipphak, wie kann die Politik die erwähnten positiven Bilder entwerfen und kommunizieren?
Bernd Schlipphak: Es ist natürlich alles andere als leicht, ein Narrativ zu entwickeln, das in einer pluralistischen Gesellschaft alle anspricht und mitnimmt. An dieser zugegebenermaßen großen Leistung ist die Politik bisher gescheitert. Das liegt zum einen daran, dass Politik daran interessiert sein muss, gegensätzliche Positionen darzustellen und Alternativangebote zu machen – es müssen also sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten betont werden. Zum anderen ist Politik an Wahlzeiten gebunden, Politiker richten sich also an Wahlperioden aus. Es ist enorm schwierig, gleichzeitig kurzfristige Erfolge vorweisen und große Erzählungen entwickeln zu müssen.
Kann denn die Politik diese gruppenübergreifende Kommunikation fördern, beispielsweise durch die von der SPD angekündigten Town-Hall-Meetings, mit denen sie den Austausch mit den Bürgern intensivieren möchte?
Bernd Schlipphak: Möglicherweise ja. Dazu gibt es aber noch zu wenig Forschung. Wir wollen aber genau diese Frage untersuchen: Können Gesprächsrunden unterschiedlicher Akteure dabei helfen, die Kommunikation und das Verständnis füreinander zu befördern? Treffen auf lokaler Ebene zeigen schon jetzt, dass ein regelmäßiger Austausch das Vertrauen unter den Teilnehmern stärkt und einen Konsens wahrscheinlicher macht. Die entscheidenden Fragen sind aber: Lassen sich solche Effekte auch auf überregionale, bundesweite Problemlösungen übertragen? Und selbst wenn das der Fall ist: Haben wir dann angesichts von Krisen mit drängenden Problemlagen die Zeit für solche Maßnahmen?
Was kann noch helfen?
Bernd Schlipphak: Ein außenpolitisches Feindbild kann helfen, große Teile der Gesellschaft hinter der politischen Führung zu vereinen – ein Phänomen, das wir „Rally around the flag“ nennen. Bei der Gaskrise kann das in Form von Wladimir Putin gehen, bei dem Klimawandel ist das kaum möglich. Hätte er ein Gesicht oder wäre er ein Staat, dann ließe es sich besser gegen diese Herausforderung mobilisieren. Aber auch diese beiden Krisen könnte man miteinander verbinden: Einige der Mittel zur Lösung der Gaskrise sind kompatibel mit denen, die es zur Bekämpfung der Erderwärmung braucht. Der kurzfristige Anlass könnte genutzt werden, um die langfristige Krise zu bekämpfen.
Mitja Back: Egal ob äußeres Feindbild oder positives Ziel: Ein übergeordnetes Narrativ kann dabei helfen, untergeordnete Konflikte innerhalb einer Gesellschaft vergessen zu lassen.
Was erwarten Sie angesichts der Krisen von der Politik?
Bernd Schlipphak: Es braucht den Mut, der Bevölkerung ehrlich zu sagen, welcher Anstrengungen und Entbehrungen es bedarf, um die Krisen und Probleme zu bewältigen.
Mitja Back: Allerdings reicht es nicht, an den Einzelnen zu appellieren. Regeln haben einen viel stärkeren Effekt. Selbst Menschen, die von diesen Regeln nicht überzeugt sind, neigen dazu, sie umzusetzen.
Bernd Schlipphak: Dafür benötigen das politische System und seine Institutionen Legitimität. Menschen sind willens, Regelungen umzusetzen, wenn es für sie vertrauensvolle Autoritäten gibt, die sagen, dass die Maßnahmen wichtig für die Zukunft der Gesellschaft sind, und die gleichermaßen beweisen, dass sie sich für das Gemeinwohl einsetzen. Je mehr aber die Legitimität herausgefordert wird, desto weniger folgen die Menschen den Regeln, die sie als unbequem empfinden. Dabei kämpfen die Institutionen auch mit populistischen Herausforderern, die das von der Regierung ausgewiesene Ziel als negatives Stereotyp angreifen. Dennoch unterschätzen viele politische Akteure, wie wichtig Ehrlichkeit in der Kommunikation ist und dass viele Bürger diese nicht nur aushalten, sondern auch schätzen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Gesagte mit einem ehrlichen, verlässlichen und verantwortungsvollen Handeln übereinstimmt. Sollte das mal nicht gelingen, müssen auch die Fehler klar kommuniziert werden.
Überschätzen Sie damit nicht die Wähler?
Bernd Schlipphak: Das glaube ich nicht.
Aber wollen die Leute denn hören, dass sie beispielsweise öfter auf ihr Auto verzichten müssen?
Mitja Back: ,Die Leute‘ wollen sehr unterschiedliche Dinge. Was aber für viele gilt: Sie wollen vor allem eine ehrliche Antwort darauf hören, warum sie überhaupt verzichten müssen. Und sie wollen, dass dieser Verzicht gerecht organisiert wird und auf ein positiv definiertes Ziel ausgerichtet ist. Dann sind sie auch gewillt, konkrete und im Einzelnen schmerzhafte Maßnahmen zu akzeptieren. Es geht darum, einen größeren Rahmen aufzuzeigen und zu sagen, dass es gemeinsamer Diskussionen bedarf, um zu klären, wie die Gesellschaft als Ganzes die Probleme lösen kann. Diese Ehrlichkeit wird meiner Meinung nach belohnt, das Schweigen und Ausweichen nicht.
Also etwas, aber nicht zu konkret? Ist es vor diesem Hintergrund richtig, wenn Robert Habeck darauf hinweist, dass wir alle häufiger kalt duschen müssen, um Gas zu sparen – und dafür Empörung erntet?
Bernd Schlipphak: Naja, einerseits gibt es zwar eine gerade in der medialen Berichterstattung wahrzunehmende Empörung, andererseits zeigen aber die Umfragen, dass Robert Habeck aktuell der beliebteste Politiker ist. Er und Annalena Baerbock kommunizieren aus meiner Sicht am klarsten von allen aktuellen Regierungsmitgliedern – davon profitieren auch die Grünen als Ganzes. Olaf Scholz hingegen scheint mir weniger deutlich zu kommunizieren, und der Effekt ist nicht, dass die SPD durch die Decke schießt.
Selbst wenn es diese offene Kommunikation gäbe: Sind wir in den derzeitigen Krisen nicht eigentlich nur Getriebene? Das Virus verändert sich ständig, Putin führt einen Krieg und bestimmt die Gasversorgung. Entsteht dadurch nicht zwangsläufig der Eindruck, dass die Politik keine einheitliche Kommunikation und Haltung findet?
Mitja Back: Viele der aktuellen Krisen sind miteinander verbunden. Deshalb wird es weitere Krisen gegeben. Es wäre sinnvoll, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und die großen Lösungen anzugehen. Dafür muss man wiederum etwas finden, das man den Leuten plastisch kommunizieren kann.
Bernd Schlipphak: Krisen können gemanagt werden, wodurch man nicht nur zum Getriebenen wird. Zwar ist eine Krise gewissermaßen ein externer Schock, auf den man reagieren muss. Dennoch kann man sie zu einem gewissen Teil antizipieren. Dass es zu Engpässen bei der Gasversorgung kommen könnte, war ja bereits ein bekanntes Szenario, allerdings haben die verantwortlichen Politiker das jahrelang ignoriert.
Sie haben vorher von klarer Kommunikation und Ehrlichkeit gesprochen. Das hört sich nach einer leichten Lösung für die Krisenkommunikation an …
Bernd Schlipphak: Nein, so einfach ist es sicher nicht. Zu ehrlicher Kommunikation gehört aus meiner Sicht auch, Fehler zuzugeben und sich zu korrigieren. Aber das Eingeständnis von Fehlern ist besonders für solche Menschen schwierig, die stark in der Öffentlichkeit stehen und Autorität demonstrieren müssen – etwa Politiker.
Mitja Back: Das ist richtig. Führungsstärke zu zeigen und gleichzeitig Schwächen einzugestehen – das ist eine sehr komplexe Aufgabe. Außerdem kann man nicht sagen, dass es die eine Politikerpersönlichkeit gibt, die immer richtig ist und ,funktioniert‘. Es kommt auch auf den gesellschaftlichen und politischen Kontext an, in dem agiert wird. Geht es darum, zu konsolidieren und Sicherheit auszustrahlen, ist eine ruhige und abwartende Art häufig förderlich. In einer Situation, in der man schnell radikale und anspruchsvolle Veränderungen umsetzen muss, wie es angesichts des Ukrainekriegs oder des Klimawandels der Fall ist, braucht man eine Kommunikation, die Begeisterung und Gemeinsamkeit auslösen kann.